Blut rinnt ihr über die Finger. Sie entfernt das Herz, legt den abgetrennten Kopf in eine Holzschale. 26 Yuan hat sie für das Huhn bezahlt. „Viel zu teuer“, sagt ihr Mann und schenkt sich ein Glas Reisschnaps ein.
In der Ferne hört man Autos. „Die neue Straße“, erklärt er, als ob er sich entschuldigen müsste. Ein Zugeständnis der Regierung, um die Infrastruktur der Region zu verbessern. Wenn seine Frau abends schlafen möchte, hört sie das Dröhnen der Motoren. Manchmal bekommt sie davon Kopfschmerzen. Erst vor wenigen Monaten wurde eine Solaranlage in ihrem Dorf installiert. Sie teilen sie mit den anderen fünf Dorfbewohnern. Jetzt bekommen wir manchmal warmes Regenwasser zum Kochen“, sagt die Frau und lacht.
Mit ihrem Mann sitzt sie um die Feuerstelle in der Mitte des Raumes aus holzgetäfelten Wänden. Sie, die wie alle Frauen im Dorf, traditionell Yu genannt wird, ist hier geboren. Das war 1958. Yu möchte nicht so viel erzählen, wie es damals war während der Kulturrevolution. Großes wurde ihrer Familie versprochen. Mehr Rechte für die Bauern, bessere Infrastruktur, fruchtbarer Boden. Doch die Realität brachte ihnen Dürren, Hungersnot und mehr als 20 Millionen Tote. Das Ende von Mao Zedongs „Großem Sprung nach vorn“.
Doch davon weiß Yu nichts. „Unser Tempel war zerstört. Wir konnten nicht mehr beten“, sagt ihr Mann, der meistens Yuan genannt wird. So will es die Namenstradition des Volkes der Bulang. 120.000 von ihnen leben in dieser entlegenen Region, nahe der Grenze zu Laos.
Ein sprechender Hund jagt über den Bildschirm.
„Unsere Tiere sprechen nicht,“ sagt Yuan.
Yu steht hastig auf, gibt Schweinefett in den Wok. Ihr Mann wippt auf seinem Schemel, wärmt sich die Hände an der Feuerstelle und nippt an seinem Reisschnaps. Er schaltet den Fernseher ein. Ein Nachbar hat ihn aus der Stadt mitgebracht. Über die neue Straße hat er ihn transportiert, hinten auf dem Motorrad. 200 km ist er gefahren. Ein sprechender Hund jagt über den Bildschirm. Unten die Übersetzung in chinesischen Schriftzeichen. Die beiden starren auf den schwarzen Kasten. Sie können nicht lesen. „Unsere Tiere sprechen nicht“, sagt er. Seine Frau lacht. Strom ist teuer, aber einen Fernseher muss man haben, findet Yuan.
Gefragt hat sie keiner, ob sie eine Straße wollen. Nutzen kann sie nur, wer ein Auto oder Motorrad besitzt. Doch die Eheleute besitzen nur zwei Schweine und drei Hühner. Eines davon wäre vor ein paar Wochen beinahe von einem Auto überfahren worden.
Das Hühnerfleisch setzt Kruste an. Yu rührt. Yuan raucht eine Zigarette. Ruß zieht durch den Raum, der nur ein kleines Fenster hat, setzt sich in der Kleidung ab, zieht weiter ins Schlafzimmer, ein kleiner Raum ohne Türe mit 2 dünnen Matratzen. Hier wohne der Familiengeist. Niemand außer den Eheleuten dürfe das Zimmer betreten. Das bringe Unglück. Direkt unter der Feuerstelle hört man die Schweine in ihren Stallungen.
Yu schenkt sich ein kleines Glas Reisschnaps ein. Sie brauche das, um die Arbeit zu schaffen. Ihre Gelenke schmerzen oft. Jeden Morgen geht sie auf die Zuckerrohrplantagen. Harte Arbeit. Ihr Mann kümmert sich zu Hause um die Feuerstelle, hütet das Haus. So will es die Tradition. Seit ihrem 14. Lebensjahr sind sie verheiratet. Eine kurze Zeremonie, die erste gemeinsame Nacht. Neun Monate später wird ihr Sohn geboren. Sie haben genug zu essen, das Kind wächst heran. Erst spät findet er eine Frau, denn viele Frauen gibt es nicht mehr in dieser Gegend. „Die jungen Mädchen wollen in die Stadt und schöne Sachen kaufen, in einer Wohnung leben mit fließendem Wasser und Strom“, sagen Yu und Yuan.
Der neue Fernseher zeigt den beiden die neue Welt da draußen. Elegant gekleidete Chinesinnen, wie sie mit Sonnenschirm über die chinesische Mauer laufen. Merkwürdig finden sie das. In ihrem kleinen Holzhaus gibt es neben einer Feuerstelle nicht viel: Zwei Thermoskannen, Bettwäsche mit Schmetterlingsmotiven, viele Töpfe und ein wenig Geschirr. „Mehr brauchen wir nicht.“
Yu und Yuan erinnern sich noch gut an den Tag, an dem sich auch für sie alles verändern sollte. Ein Offizier stand plötzlich in ihrer Stube und forderte sie auf, das Dorf zu verlassen und ins Tal zu ziehen. Anweisung der Regierung. Yu dachte an die Träume ihrer Eltern während der Kulturrevolution. Jeden Tag Fleisch, genügend Trinkwasser, ein wenig Wohlstand. Doch das Dorf ist ihre Heimat, das Land ihrer Vorfahren. Ein anonymes Leben in einem Hochhaus? Undenkbar. Die Regierung bot ihnen Geld, viel Geld. Doch sie bleiben standhaft.
Die interessieren sich nicht für unsere Schweine so wie die Ausländer.
Kurz darauf gingen Gerüchte um. Eine Straße werde nun 140 km weiter südlich gebaut. Direkt an ihrem Haus solle sie vorbeiführen. Ein Zugeständnis der Regierung, um die Versorgung der Bergbewohner zu verbessern, so erzählte man sich. Das Nachbardorf, das durch die neue Straße schon bald von dem kleinen Dorf mit der neuen Solaranlage getrennt sein würde, jubelte. Viele junge Menschen leben dort, sagt Yu. Sie träumen von einem Leben in einem Backsteinhaus. Mit großen Fenstern aus Glas, einer richtigen Türe. „Und einem teuren Motorrad davor“, sagt Yuan.
Bereits wenige Wochen später wurden Materialien zum Hausbau über die frisch geteerte Straße transportiert. Eine neue Siedlung entstand innerhalb weniger Wochen. Mit Häusern aus Backstein mit weißen Balkonen und blauen Dächern.
Wenn Yu und Yuan sich abends die Hände waschen, draußen, auf einer Art Vorsprung, an dessen Geländer ein Schlauch befestigt ist, können sie sie sehen, die blauen Dächer, wie sie leuchten im Licht des Sonnenuntergangs. Ihr Dach ist aus Holz, es liegt im Schatten der neuen Häuser und leuchtet nicht. Von weitem hören sie die Arbeiter, wie sie den letzten Straßenabschnitt fertigstellen. Sie arbeiten Tag und Nacht.
Damals, als ihre Schwiegertochter schwanger war, ja, da hätten sie eine Straße gebraucht. Yuan lacht laut auf. Yu gibt das gegarte Fleisch in eine Schüssel.
Es war eine schwierige Geburt, damals, vor 6 Jahren. Die Mutter verlor viel Blut. Der Schamane sprach heilende Worte. Beide überlebten. Doch das kleine Mädchen hat eine Behinderung, wächst nicht, lernt weder Krabbeln noch Laufen. „Wären wir ins Tal gezogen, hätte man uns ins städtische Krankenhaus gefahren“, so Yu. „Und wer hätte das bezahlt?“ Schweigen.
Die neue Straße führt an ihrem Haus vorbei bis in die Hauptstadt. Doch ohne Auto ist sie nutzlos. Die motorisierten Bewohner aus dem Nachbardorf würden helfen. Doch wie soll man sie erreichen ohne Telefon? Ihr Sohn könnte sie jetzt regelmäßig besuchen. Doch der hat Frau und Familie verlassen. Er sucht jetzt eine Frau, die ihm ein gesundes Kind schenken kann, keinen Krüppel, wie er sagt. Seine behinderte Tochter nimmt er eines Tages mit, gibt sie bei Bekannten ab und kehrt nie mehr zurück.
Die Essstäbchen stoßen aneinander. Yu reicht noch etwas Reis. Im Fernsehen präsentiert eine Frau Zahnpasta.
Hin und wieder kommen Touristen ins Tal. Westliche Touristen mit schöner Kleidung und Apparaten, die komische Geräusche machen. Ein Photo wollen sie knipsen. Dann müssen sich Yu und Yuan vor das Holzhaus stellen. Links er, rechts sie. Dann lächelt er in die Kamera und sie senkt den Kopf. Noch kommen die Touristen zu Fuß. Für Busse ist die Straße nicht freigegeben. Noch nicht. Im kommenden Jahr soll der letzte Straßenabschnitt fertiggestellt werden. Er führt in ein modernes Dorf mit einem bunt renovierten Tempel. Dann kommen vielleicht auch Touristen aus Peking, lacht Yu. Die interessieren sich nicht für unsere Schweine, so wie die Ausländer.
Schon jetzt drohe ihre Dorfgemeinschaft auseinanderzubrechen, sagt Yuan. Jeder wolle nun ein Auto, ein Handy, ein wenig Luxus. Vor allem die Jungen wollen raus aus den Dörfern, rein ins Stadtleben, sagt Yu. Die neue Straße macht es möglich. Immer mehr Bewohner würden das Nachbardorf verlassen, Arbeit in der Stadt suchen.
Ob sie nicht auch weg wollen. Jetzt, da doch so viele gehen. Yu legt ihrem Mann den Hühnerkopf auf den Teller und schweigt. In der Ferne rauschen die Motoren.
Bilder: Christina Grübel