Es ist Sonntagmorgen, drei Uhr. Ich möchte nun wirklich gerne nach Hause, aber ein Partygast lässt mich nicht. Ich habe mich schon vor dreißig Minuten verabschiedet, aber dies scheint ihn wenig zu stören. „Wenn wir nun alles verlieren, dann ist es so. Immerhin haben wir bis zum Schluss gekämpft.“ Eine unausgesprochene Regel der Feier war, nicht über Politik zu sprechen – das hat auch gut funktioniert. Bis jetzt. „Wenn sie unsere Institutionen einschränken, dann müssen wir radikal werden.“ Dann fällt der Name einer katalanischen Tarn-Organisation, „Terra Lliure“. Wie konnte es so weit kommen, dass man bei geselligen Events mit einem Angestellten des öffentlichen Dienstes über radikale politische Maßnahmen spricht?
In Barcelona brodelt es – gestern hat die spanische Regierung Maßnahmen angekündigt, die nächste Woche die politische Landschaft in Katalonien grundlegend ändern werden. Der katalonische Präsident Carles Puigdemont erklärte, er würde das autonome Parlament einberufen, um über das weitere Vorgehen zu beraten. Aber eigentlich sollte das Vorgehen der Zentralregierung in Madrid keine Überraschung sein.
Katalonien ist die ökonomisch stärkste Region Spaniens. Das aktuelle Autonomiestatut, welches die Konditionen und Pflichten zwischen Katalonien und dem spanischen Staat klärt, trat 2006 in Kraft. 2010 entschied das Verfassungsgericht, nach einer Klage der Volkspartei Partido Popular (PP), dass einige Punkte gestrichen oder angepasst werden müssten. Dies betraf auch die Aufgabe der Sonderstellung Kataloniens im Vergleich zu anderen Autonomen Gemeinschaften, sich selbst als „Nation“ definieren zu dürfen. Dies wurde – neben anderen Faktoren wie der Wirtschaftskrise – zum Anstoß der neuen Unabhängigkeitsdebatte.
Nach einer ebenfalls gesetzeswidrigen Volksbefragung im November 2014 hat die Unabhängigkeitsbewegung dieses Jahr ein neues Level erreicht. Am 6. September hat das Parlament der autonomen Regionen Spaniens unter Puigdemont ein Gesetz verabschiedet, welches die Konditionen für einen Unabhängigkeitsvotum Kataloniens am 1. Oktober definiert. Es erklärt, dass das Parlament als Vertreter der Souveränität des katalanischen Volkes agiert. Einer Souveränität, welches es jedoch laut allgemeinspanischem Recht gar nicht besitzt (da Katalonien keine souveräne Nation ist). Dementsprechend hat das Verfassungsgericht Spanien das Gesetz als ungültig erklärt und Präsident Mariano Rajoy bereits im Vorfeld erklärt, es würde kein Referendum geben.
Puigdemont sah das anders – und so fand die Abstimmung trotz aller Versuche Spaniens, inklusive Beschlagnahmung von Wahlunterlagen und Urnen, Verhaftungen und Blockierung der Wahlstätten, tatsächlich statt. Am 1. Oktober und in den Wochen danach haben sich die Ereignisse überschlagen. Die Ignoranz der geltenden Gesetze seitens der Separatisten hat zu einem – mit übertriebenen Härte durchgeführten – Durchgreifen der Polizei geführt. Verletzte und Chaos bei den Wahlstätten war die Folge – und unglaubwürdige Ergebnisse.
Zur geplanten Unabhängigkeitserklärung 48 Stunden nach der Wahl kam es nicht. Diese kam letztendlich am 10. Oktober – für wenige Sekunden. Präsident Puigdemont erklärte, dass sich 90% für die Unabhängigkeit ausgesprochen hätten und er das Mandat des Volkes akzeptiere, dass Katalonien ein unabhängiger Staat in Form einer Republik werden würde. (Dass die Wahlbeteiligung nur bei 43% lag, interessierte die Befürworter in Katalonien weniger.)
Die Folge: Jubel in der Menschenmenge in den Straßen. Sprechchöre proklamierten „In, in-de, indepencia“. Bis Puigdemont die Unabhängigkeit nur wenige Augenblicke später wieder aussetzte, um, wie er sagte, den Dialog mit Madrid zu ermöglichen. Stille, entsetzte Gesichter. Unglauben.
Schon damals wusste Puigdemont ganz genau, wie Rajoy auf eine eindeutige Unabhängigkeitserklärung reagieren könnte und würde – und hatte versucht, die Zentralregierung in Zugzwang zu bringen. Diese verlangte jedoch klare Angaben aus Barcelona. Der angesprochene Dialog sollte sich auf formellen Schriftverkehr zwischen den Administrationen reduzieren. Puigdemont mit der Unterstützung der Leute, Rajoy mit der Unterstützung der Gesetze und der EU. Puigdemont mit der Bedingung der Unabhängigkeit, Rajoy offen für alle Verhandlungen „im Rahmen der Verfassung“.
Unvereinbare Vorsätze, welche zu keinerlei Annährung geführt haben. Und nun mit dem Artikel 155 enden könnten. Dieser ermöglicht Spanien, verfassungsfeindliches Verhalten zu bekämpfen, sprich: den katalanischen Präsidenten und seinen Vize zu entmachten (und wegen Aufruhr verhaften zu lassen) und Neuwahlen anzuordnen. So weit, so gut. Die politischen Geschehnisse lassen sich im Detail in allen Tageszeitungen nachlesen.
Doch was zum einen ein Kräftemessen zweier Politiker ist, hat schon längst ein gefährliches Eigenleben entwickelt. Während ökonomische Motive klare Argumente für Diskussionen liefern könnten, hat sich der „Kampf“ auf der gesellschaftlichen Ebene weiterentwickelt.
Und so bewege ich mich wieder in Richtung Wohnungstür auf einer Party, auf der man mir versichert, gleich könne hier „alles niederbrennen“. Dabei verkehre ich nicht einmal in extremen Kreisen. Hier feiern Beamte des öffentlichen Dienstes, Künstler, Hinzugezogene miteinander – ein friedliches und tolerantes Umfeld eigentlich. Ich erwarte demnach auch keine Reden, die großen Taten folgen, bin aber dennoch überrascht, wie schnell sich die Befürworter der Unabhängigkeit (zumindest verbal) radikalisiert haben.
Die feurigen Statements sind durch ein gerade veröffentlichtes Video noch zusätzlich angestachelt worden (siehe oben): „Help Catalonia. Save Europe.“ heißt es – und ist im Netz ein voller Erfolg. Obwohl kaum etwas davon wahr ist. Besonders schön kommentiert wurde dies schon im Guardian: „Rajoy is no Franco. Puigdemont is no Mandela.” Beide Seite stilisieren sich zu etwas, was sie nicht sind. Marketing ist alles. Auch auf Deutsch ist das Video bereits treffend analysiert worden.
Puigdemont bezeichnet die Anwendung des Artikels 115 als „Putsch“ und „inakzeptablen Angriff auf die Demokratie“. Es geht nicht mehr um Verhandlungen wirtschaftlicher Bedingungen, sondern um „Freiheit“, „Demokratie“ und Verteidigung gegen den „faschistischen“ spanischen Staat. Es wird von „Dignidad“, von Ehre gesprochen. Das sind imposante Worte, keine Frage. Doch ihre sachlichen Grundlagen sind mehr als fragwürdig.
Wie gut diese Strategie auf rein emotionaler Ebene wirkt, ist erstaunlich. Keine Bank würde – so Kataloniens Ex-Präsident Artur Masein – ein „freies“ Katalonien verlassen. Nun haben nicht nur wichtige Banken, sondern bereits über 1.000 Unternehmen ihren Firmensitz in andere Teile des Landes verlegt. Ach, die kommen schon wieder! Ein „freies“ Katalonien würde sicher in der EU bleiben. Die EU bezieht jedoch auf der Seite Rajoys Stellung und verneint dies – das übersehen die Separatisten jedoch gerne.
Ein neuer Staat kostet viel Geld, sehr viel Geld. Man ist aber noch hoch bei der spanischen Regierung verschuldet. Da fällt einem sicher noch was ein. Und außerdem: Wen interessieren die Katalanen, die sich gar nicht abspalten wollen? Das sind ja gar nicht so viele. Wen interessiert, dass die Wahlbeteiligung so gering war? Das liegt nur am den Maßnahmen Madrids, die Wahl zu unterbinden. Mit diesen Fragen und Argumenten kann ich nicht zu meinem Gesprächspartner durchdringen. Sie haben keinen Platz in der Ideologie, die unter Freunden, Verwandten und Kollegen verbreitet wird.
Dieser kühle Blick auf die Realitäten soll die schroffen Maßnahmen der Zentralregierung unter Rajoy nicht in Schutz nehmen, deren Verhalten sicher einen nicht zu unterschätzenden Anteil an der derzeitigen Entwicklung hat. Doch darf man nicht vergessen: Rajoy ist gesetzlich im Recht und wird international gestützt.
Puigdemont kann sich auf einen Teil der katalanischen Bevölkerung verlassen. Einen Teil, der an bereits erwähnte Versprechen glaubt – auch wenn eines nach dem anderen platzt. Nein, ich habe keine Antwort darauf, wie eine Unabhängigkeit aussehen würde. Aber wenn mir die Rezeptionistin im Gym erzählt, dass man zum „Dänemark des Südens“ werde (Worte von Artur Mas), dann wage ich das zu bezweifeln. Und ich befürchte, dass die sofortige Unabhängigkeitserklärung um jeden Preis, die rechte Stimmen heute fordern, zu einem sehr hohen Preis kommen könnte. Ganz zu schweigen davon, dass sie Katalonien sicher nicht in eine Art spanischer Schweiz verwandeln würde, die sich so mancher erträumt.
Madrid wird nach einer erzwungenen Neuwahl sicherstellen, dass das nächste katalonische Parlament weit gemäßigter ausfallen dürfte als das bisherige. Ob oder was die Regierung unter Puigdemont nun noch tun kann kann, um dies zu verhindern, wird die nächste Woche zeigen. Was sie sich auch immer ausdenkt – es wird nicht dem entsprechen, was sich die Separatisten versprechen.
Mein Gesprächspartner relativiert seinen Aufruf zu „radikalen Methoden wie die von Madrid“ (das Handeln Rajoys wieder mit einem faschistischen Schachzug gleichsetzend) und erklärt mir, er wolle doch nur, dass sein „unterdrücktes Volk in Würde leben könne“. Eine kleine Gruppe schiebt sich an mir vorbei und macht sich auf den Weg nach Hause. Ich nutze die Gelegenheit und schließe mich an.
Warum ich schon gehe, wollen sie wissen. Ich antworte: War ne lange Nacht! Warum sie denn auch so ungewöhnlich früh gingen, möchte ich wissen. Weil sie den ganzen Tag auf der Demonstration waren. Nun wollten sie sich schonen und wieder zu Kräften kommen. Für nächste Woche. Sie zwinkern mir zu. Wir werden sie brauchen, nicht wahr?
Bilder: Joan Sorolla (Cover); 1997 (Grafitto); Liz Castro (Demonstration); Miquel Claudì-López (Adolf Rajoy); Puigdemont und Rajoy (Generalitat de Catalunya)
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