Weltweit versuchen sich Menschen darin, dem Shutdown ihres Lebens Humor abzutrotzen – sei es mit Videos ihrer Kinder oder Tiere – oder mit nachgestellter Kunst wie bei @tussenkunstenquarantaine. Was kann das sein, „seinart“ in Zeiten einer Pandemie?

Eine lange Pause liegt zwischen heute und der regelmäßigen Bespielung von seinsart, das sich bei seiner Gründung vor bald 5 Jahren auf die Fahnen geschrieben hat, mit seiner Arbeit das „Wesentliche zu berühren“. Unser Projekt, ein Online-Magazin ganz neuer Art, besaß bei seinem Auftakt weder einen Businessplan noch eine clevere Vermarktungsstrategie. Alles, was wir hatten, war ein kleines Team begeisterter Autor*innen – und eine Handvoll Texte, die anlässlich der Live-Schaltung am 14. Juli 2015 online gehen konnte. Nicht ganz umsonst hatten wir den 14. Juli als unser Gründungsdatum auserkoren: Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit sollten auch die Pfeiler unserer Arbeit werden – im Team wie in unserer Sicht auf die Welt.

Fünf Jahre später hat sich die Welt, in der wir leben, fundamental verändert. Und das nicht erst seit der großen Pandemie, die seit einigen Wochen alles für sich reklamiert: unsere Aufmerksamkeit, unseren Alltag, die Nähe zu unseren Liebsten. Vom Merkel’schen „Wir schaffen das“ bis hin zum Coup d’Etat der AfD in Thüringen vergangenen Herbst, von der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA bis hin zur globalen Wirtschaftskrise infolge von Corona, vom Brexit-Referendum bis hin zum Ermächtigungsgesetz eines Viktor Orbán zieht sich eine Spur der Verwüstung durch alles, was uns in politischer Hinsicht als unverrückbar schien.

Die klassischen Bösewichter der Weltpolitik schienen plötzlich ganz harmlos neben dem Feind in unserem eigenen Bett – und das unabhängig von der eigenen Perspektive. Ob man diesen nun in den „Altparteien“ oder in den neuen Rechten vermutete: Von ganz links nach ganz rechts setzte sich die Überzeugung durch, man lebe in gefährlichen Zeiten. Dass es am Ende einem Virus gelingen würde, dieser Gefahr einen Namen zu verleihen, auf den sich fast alle einigen konnten – auch das wäre im Jahr 2015 wohl getrost als Science Fiction oder Weltverschwörungstheorie durchgegangen.

Berührt das Wesentliche! | seinsart
Wie berührt man das Wesentliche?

Wenn sich seinsart nun aus dem Off zurückmeldet, so tut es dies auch, um sich selbst auf den Prüfstand zu stellen. Haben wir in all diesen Jahren wirklich das Wesentliche berührt? Oder haben wir unsere Mission irgendwann aus den Augen verloren, auch wenn wir für unsere Inhalte beinahe den Grimme Online Award bekommen hätten – und in guten Monaten gerne mal sechsstellige Klickzahlen verzeichnen konnten? Ich denke, die Antwort lautet: Ja und Nein. Auch sie gibt es nicht als alternativlose Wahrheit, auch sie ist eine Frage von Standpunkt und Erwartungshaltung.

Als wir uns gründeten, wählten wir bewusst keinen thematischen Schwerpunkt, der es sicher erleichtert hätte, uns als junges Nischenmagazin im Netz zu etablieren. seinsart als Fanzine für sinnliche Sportgymnastik? Oder als Online-Blog für luxemburgische Landhausbesitzer? Uns interessierte im Gegenteil gerade das „Ganzheitliche“, das so vielen Bewegungen oder Medien zu fehlen schien: seinsart eben oder die Kunst zu leben. Dieser Ansatz war es auch, der unsere Rubriken bestimmte: anstelle von Ressorts galt es, Antworten auf die großen Lebensfragen zu formulieren; Diskussion, Verwerfung und Neufindung inklusive. Alles außer Dogma.

Im Verlauf unserer Geschichte führte die Diversität unserer Autor*innen immer mehr dazu, dass wir – ganz ohne Absicht – plötzlich doch so unsere Schwerpunkte entwickelten. Dazu gehörten zweifellos Politik, zwischenmenschliche Beziehungen und mehrteilige Reportagen aus verschiedenen Winkeln dieser Welt. seinsart wurde über Nacht von einem Lebenskunst-Projekt zu einem engagierten Magazin – das sich immer mehr für die Diskussion gesellschaftlicher Entwicklungen zu interessieren begann. Und so verwundert es wohl kaum, dass neben dem Kreis unserer Fans auch unsere Gegner wuchsen – und mit teilweise schmutzigen Methoden gegen uns vorgingen. Ihr wisst schon: Über drei Dinge soll man niemals reden: Religion, Politik und Krankheit.

Berührt das Wesentliche! | seinsart
seinsart – das ist: Alles außer Dogma.

Wie aber vom Wesentlichen schreiben, ohne diese drei Kampfthemen zu berühren? Und wäre das überhaupt noch wesentlich? Diese Frage treibt uns seit dem Ende der regelmäßigen Berichterstattung auf seinsart um – und kehrt nun, in Zeiten des Lockdowns, mit besonderer Wucht zurück. Ist das Wesentliche wirklich der Streit um die richtige Religion – oder nicht viel eher das zeitlose Gedicht von Rumi, das nicht nur den Sufi, sondern auch den Christen wie den Atheist zu berühren versteht? Ist das Wesentliche also Kampf und Kritik und Auseinandersetzung und Diskussion – oder im Gegenteil die gemeinsame Suche nach dem, was verbindet und Brücken in eine bessere Zukunft zu schlagen versteht?

Wir möchten diese Frage nicht selbst beantworten. Wir möchten sie viel eher Dir stellen, die bzw. der Du seinsart in den vergangenen 5 Jahren zu dem gemacht hast, was es ist: eine Plattform für Menschen, die auf der Suche sind – neugierig, engagiert, und auch ein bisschen abgedreht. Schreib uns – auf Facebook, auf Twitter, auf Instagram, was Dich wirklich interessiert. Was erscheint Dir wesentlich – nicht nur angesichts von Covid19, aber natürlich auch. Was willst Du lesen, was willst Du sehen, und – vielleicht am spannendsten: Was willst Du selbst dazu beitragen… filmen… fotografieren?

Nicolas und das Team von seinsart freuen sich darauf, von Dir zu lesen. Was immer Dir auf der Seele brennt – steck uns damit an!

اين جهان كوه است و فعل ما ندا
باز گردد اين نداها را صدا

Die Welt ist ein Berg, und alles, was man je von ihr zurückbekommt, ist der Widerhall der eigenen Stimme.

(Dschalal ad-Din al-Rumi)

Written by Nicolas Flessa

Nicolas Flessa studierte Ägyptologe und Religionswissenschaft. Der Chefredakteur von seinsart drehte Spiel- und Dokumentarfilme und arbeitet heute als freischaffender Autor und Journalist in Berlin.

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