Die Bundesregierung hat gestern dem Antrag des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan stattgegeben. Somit ist eine Strafverfolgung gegen den Satiriker Jan Böhmermann wegen der Beleidigung eines ausländischen Staatsoberhaupts nach §103 des Strafgesetzbuches* (siehe unten) ermöglicht worden. Diese Entscheidung ist brisant.
Bundeskanzlerin Angela Merkel begründete diese Entscheidung wie folgt: „Im Rechtsstaat ist es nicht Sache der Regierung, sondern von Staatsanwaltschaften und Gerichten, das Persönlichkeitsrecht und andere Belange gegen die Presse- und Kunstfreiheit abzuwägen.“ Diese Argumentation ist an sich völlig richtig, nur wird mit ihr ein falsches Urteil begründet.
Die Argumentation ist richtig, nur das Urteil ist falsch.
Für die Einordnung des Urteils muss man sich nicht genau mit den verschiedenen Paragraphen und Rechtsauslegungen auseinandersetzen. Fakt ist, dass Böhmermann sein umstrittenes Gedicht in einer Satiresendung vorgetragen hat. Durch die Zulassung des Antrags hat die Bundesregierung deutlich gemacht, dass sie es durchaus für möglich hält, dass das Gedicht trotz der Kunstfreiheit von Satire die Persönlichkeitsrechte des türkischen Präsidenten verletzen könnte. Damit hat durchaus eine erste Abwägung von Persönlichkeitsrecht und Kunstfreiheit stattgefunden, wenn auch ohne abschließendes Urteil. Wenn die Bundesregierung keine Abwägung vorgenommen hätte, wäre der Antrag mit dem Hinweis auf eine Satiresendung ablehnt worden. Es wäre dann problemlos möglich gewesen, Erdoğan zur weiteren Klärung an die deutschen Gerichte zu verweisen. Die Begründung von Angela Merkel hätte perfekt gepasst.
Die Signalwirkung, die das Urteil mit sich bringt, ist fatal. Es entsteht nun der Eindruck, dass unsere wichtigsten Werte durch außenpolitische Interessen angekratzt werden können. Ironischerweise genau jene Werte, auf die bei Diskussionen zum Thema Integration auch die Bundesregierung pocht. Und das mit Recht.
Die Werte, die wir einfordern, werden angekratzt.
Wir brauchen die Meinungsfreiheit. Nur wenn wir unsere Meinung frei äußern dürfen, können wir verhindern, dass Obrigkeiten wie Regierungen oder Kirchen Entscheidungen treffen, die nicht von der Mehrheit getragen werden und die Rechte einzelner oder mehrerer einschränken. Dabei kann es sich um den Bau eines Bahnhofs in Stuttgart handeln oder aber um ein transatlantisches Freihandelsabkommen. Um sich mit Kondomen beim Geschlechtsverkehr zu schützen, braucht man eine eigene Meinung, die nicht von jeder Kirche getragen wird. Auch extreme Meinungen müssen gehört werden. Mit Verboten wird man beispielsweise nie verhindern können, dass rechtsextreme Menschen Flüchtlingsheime angreifen. Hier ist es wichtig zuzuhören, zu argumentieren und zu überzeugen. Das geht aber nur, wenn man solche Meinungsäußerungen auch zulässt und damit verbreitete Meinungsbilder erkennen kann.
Um sich eine Meinung zu schwierigen Themen bilden zu können, greifen die meisten Menschen glücklicherweise auf Informationen zurück. Diese Informationen kann ein einzelner Mensch unmöglich alleine recherchieren. Dafür haben wir die Presse. Und diese muss Informationen erhalten, sie auswerten und publizieren dürfen. Wir möchten es erfahren, wenn unsere Politiker über ein Freihandelsabkommen entscheiden sollen, das Folgen für viele Bürger haben könnte. Und auf Basis welcher Informationen das geschieht. Und welche Auswirkungen das für uns hat, als Gesellschaft und als Einzelne.
Um sich mit Kondomen beim Geschlechtsverkehr zu schützen, braucht man eine eigene Meinung.
Die Kunstfreiheit ist ebenso wichtig. Das lässt sich am Beispiel der Satire sehr gut nachvollziehen. Gerade bei unserer heutigen Reizüberflutung kann es sehr leicht passieren, dass Informationen verloren gehen und wichtige Diskussionen nicht oder nicht ausreichend geführt werden. Und hier kommt die Satire ins Spiel, die angreift, provoziert, vergleicht und belehrt. Und damit sie das kann, darf sie bewusst Tabus brechen. Aggressiv sein, verzerren, die Wahrheit biegen und ja, auch beleidigen. Durch diese Schärfe stellt sie sicher, dass nichts Wichtiges unter den Tisch fällt. Das können sexuelle Übergriffe in der Silvesternacht in Köln sein, aber auch Menschenrechtsverletzungen in der Türkei.
Als Satiriker meine ich, dass Böhmermanns Gedicht durchaus als Satire bezeichnet werden darf. Und das auch, obwohl er es Schmähkritik genannt und als verboten bezeichnet hat. Die Absicht zu belehren ist eindeutig zu erkennen. Erdoğan selbst hatte den deutschen Botschafter einbestellt, der eine Satire der Sendung „Extra 3“ rechtfertigen musste. Das Gedicht klärt auf, was in Deutschland nicht mehr als Satire gilt, und ist damit belehrend. Zumal die nicht-sexuellen Bestandteile des Gedichts einen sachlichen Bezug zur Realität haben. Natürlich darf das der türkische Präsident anders sehen. Und eine private Anzeige vornehmen. Dafür gibt es Gerichte, die hier zu einer Entscheidung kommen.
Natürlich darf das der türkische Präsident anders sehen.
Und eine private Anzeige vornehmen.
Dies sollte der einzige Weg sein. Keine anderen Überlegungen und Interessen dürfen das in Frage stellen. Meinungs-, Presse- und Kunstfreiheit sind konstitutiv für eine Demokratie. Ohne diese Werte kann nicht alle Macht und Gewalt vom Volk ausgehen – sondern geht ohne Not an die Mächtigen verloren.
* § 103 StGB. Beleidigung von Organen und Vertretern ausländischer Staaten
1. Fassung vom 1. Januar 1872:
(1) Wer sich gegen den Landesherrn oder den Regenten eines nicht zum Deutschen Reiche gehörenden Staats einer Beleidigung schuldig macht, wird mit Gefängniß von einem Monat bis zu zwei Jahren oder mit Festungshaft von gleicher Dauer bestraft, sofern in diesem Staate nach veröffentlichten Staatsverträgen oder nach Gesetzen dem Deutschen Reiche die Gegenseitigkeit verbürgt ist.
(2) Die Verfolgung tritt nur auf Antrag der auswärtigen Regierung ein.
Aktuelle Fassung:
(1) Wer ein ausländisches Staatsoberhaupt oder wer mit Beziehung auf ihre Stellung ein Mitglied einer ausländischen Regierung, das sich in amtlicher Eigenschaft im Inland aufhält, oder einen im Bundesgebiet beglaubigten Leiter einer ausländischen diplomatischen Vertretung beleidigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe, im Falle der verleumderischen Beleidigung mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.
(2) Ist die Tat öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3) begangen, so ist § 200** anzuwenden. Den Antrag auf Bekanntgabe der Verurteilung kann auch der Staatsanwalt stellen.
** § 200 StGB. Bekanntgabe der Verurteilung
(1) Ist die Beleidigung öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3) begangen und wird ihretwegen auf Strafe erkannt, so ist auf Antrag des Verletzten oder eines sonst zum Strafantrag Berechtigten anzuordnen, daß die Verurteilung wegen der Beleidigung auf Verlangen öffentlich bekanntgemacht wird.
(2) Die Art der Bekanntmachung ist im Urteil zu bestimmen. Ist die Beleidigung durch Veröffentlichung in einer Zeitung oder Zeitschrift begangen, so ist auch die Bekanntmachung in eine Zeitung oder Zeitschrift aufzunehmen, und zwar, wenn möglich, in dieselbe, in der die Beleidigung enthalten war; dies gilt entsprechend, wenn die Beleidigung durch Veröffentlichung im Rundfunk begangen ist.
Bild: Wikipedia (Screenshot aus dem Trailer zu „Der große Diktator“)