Wir fahren aus Shingal heraus. Auf mich wartet ein Gang, der mir nicht weniger schwer fallen wird. Der Gang an die Massengräber. Dahin dürfen wir aber nur in Begleitung der Asaisch. Die Asaisch sind eine Art Militärgeheimdienst, eine Spezialeinheit. Vor Ort treffe ich auf Oberst Alaa, ihren Anführer. Er ist sehr gastfreundlich und zuvorkommend. Die beiden Massengräber befinden sich auf einem Schlachtfeld, welches nur minutenweise betretbar ist. In Sichtweite liegt ein Dorf, welches noch immer von den Häschern des IS besetzt ist.

Oberst Alaa weiß, warum ich in den Irak gekommen bin. Auch ihm ist es wichtig, dass die Öffentlichkeit das Schicksal seines Volkes sieht. Also schickt er uns mit vier seiner Kämpfer, einer Spezialeinheit, in einem schwer bewaffneten Pritschenwagen in Richtung der Gräber. Ungläubig steige ich auf den Toyota Hilux mit schwerem Geschütz. Wie oft habe ich einen solchen Wagen in den Nachrichten oder in Dokumentarfilmen über den Krieg gesehen.

Im Gegensatz zu heute steht dann meistens einer hinten drauf und schießt um sich, während ihn ein anderer durch den feindlichen Kugelhagel lotst. Ich bin froh, dass meine Bilder heute nicht bestätigt werden. Zusammen mit Adiba setze ich mich auf den Ladebereich des Jeeps. In seinem Inneren sind Sitzmöglichkeiten eingebaut. Vorne auf der Ladefläche steht ein Kämpfer am Maschinengewehr, welches oben über dem Dach angebracht ist. Er wirkt sehr konzentriert, grüßt nur kurz und geht wieder an seinen Posten.

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Durch ein Industriegebiet kommen wir an einen Ort, den keine Feder und keine Zunge beschreiben kann. Spärlich umzäunt sehe ich zwei etwa 100 Quadratmeter große Flächen, die man ausgekoffert hat. In ihrem inneren Bereich liegen noch immer Knochen. Knochen von Menschen. Mit Adiba bleibe ich vor einem Schild stehen, auf dem in Arabisch geschrieben steht, dass es sich hier um ein Massengrab handelt und man respektvoll mit dem Ort des Geschehens umgehen soll.

Während Adiba auf die Knochen der Menschen sieht, senkt sie ihren Kopf. Hier liegen ihre Leute begraben. Wie gerne würde ich jetzt meine Hand auf ihre Schulter legen und sagen, wie sehr es mir leid tut. Ich will ihr aber nicht zu nahe treten. Deswegen gehe ich mit einem der Kämpfer um das erste Grab herum und lasse mir von ihm erklären, was hier geschehen ist. Er erklärt mir, dass es sich bei den Opfern weitgehend um alte Menschen handelt. Das könne man an den Überresten ihrer Kleidung sehen. Es liegen Teile jesidischer Trachten mit Haaren und Knochen nebeneinander in diesem Grab.

Wer entscheidet, dass ein Mensch leben darf oder sterben muss?

Für einen kurzen Moment versuche ich mir auszumalen, wie es sich hier zugetragen haben muss. Ich komme aber nicht weiter als mich selbst zu fragen: Warum? Warum muss so etwas geschehen? Wer entscheidet, dass ein Mensch leben darf oder sterben muss? Bestimmt nicht jemand, der an Gott glaubt. Es gibt keine Religion, die das hier erlaubt. Nicht eine.

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Als ich anfange zu fotografieren, bricht mein Begleiter unseren kurzen Aufenthalt ab. Er habe ein Zeichen vom Auto bekommen. Irgendetwas habe sich da in der Ferne bewegt. Wir müssen weg. So schnell es geht. Mir wird erst klar, wie nah wir an der anderen Seite waren, als selbst der eine der Kämpfer aufhört, mich und Adiba anzulächeln. Konzentriert sitzen wir in unserem Gefährt und warten, bis wir wieder zurück zu der Station kommen, wo Oberst Alaa mit einem Mittagessen auf uns wartet. Es gibt gebratenes Hühnchen mit Reis und Salat. Wir nehmen dankend an.

In einer günstigen Minute frage ich den Oberst, ob ich die Möglichkeit bekommen kann, mit einem inhaftierten IS-Kämpfer zu sprechen. Als er mich augendrehend, aber freundlich ansieht, kann ich sein Schweigen nicht interpretieren. Noch nicht. Er schlägt vor, mir einen zu zeigen. Live und in Farbe. Versprochen. Wir fahren gemeinsam mit ihm und einem der Asaisch zu einem zerbombten Haus.

„Da oben liegt er. Geh eben hoch und schau ihn dir an!“ Oberst Alaa weist mich an, eine kleine zerfallene Treppe hochzugehen und mir eine Leiche anzusehen. Ich frage mich, warum er nicht mit nach oben kommen will. Das finde ich zwei Meter vor einer halbverwesten Leiche heraus. Ich kann vor mir einen getöteten Kämpfer sehen. Er liegt auf dem Bauch, oder auf dem, was davon noch übrig ist. Sein Kopf ist ab. Den finde ich beim Mustern auch nicht.

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Von unten ruft der Oberst mir zu, dass sein Vater neben ihm im Geröll liege. Ich solle vorsichtig sein, das sei instabil. Unten angekommen frage ich den Oberst, warum man den Körper nicht bestattet hat. Man könne Schlechtes doch nicht mit Schlechtem vergelten. Er erklärt mir, dass dieser junge Mann ohne Kopf ein echter Shingali, also ein Einwohner der Stadt Shingal war. Die Moslems haben hier Hunderte von Jahren familiär nebeneinander mit den Jesiden gelebt.

Als der IS einmarschierte, habe man die Moslems nicht wiedererkannt. Sofort hätten sie beim Schlachten mitgemacht. Einfach so. Als hätten sie nur auf den Moment gewartet. Eine Wahrheit, die sich so oft in der Geschichte seiner Menschen wiederholt hat, habe sich wieder gezeigt: Wie ein schwarzer Schleier aus Hass und Wut haben sie die Menschen dahingerafft. Sie haben alles vergessen, was man in den Jahren und Generationen zusammen erlebt hat.

Ich dachte, dass es einzelne sind, die dem Bösen Solidarität geschworen haben. Dem ist aber nicht so.

Mit dem Körper des toten Kämpfers wollen man die Erde von Shingal nicht beschmutzen, fügt Oberst Alaa kopfschüttelnd hinzu. Das mit dem Schlachten habe ich nicht das erste Mal gehört. Ich dachte immer, dass es bei einem Angriff zu solchen Übergriffen kommt, weil ein Teil der Bevölkerung noch eine Chance des Überlebens darin sieht. Ich dachte, dass es einzelne sind, die dem Bösen Solidarität geschworen haben. Dem ist aber nicht so. Das nehme ich vorweg. Fast jeder Shingali hat mir dieselbe Geschichte erzählt. Unabhängig voneinander. Keiner von ihnen lügt.

Ich habe durch ihre Augen bis auf ihre geschundenen Herzen schauen können. Diese Leute haben Gewalt in einer ganz anderen Qualität und Brutalität erfahren als wir sie auch nur erahnen können. Ein Jeside würde niemals über seine Ehre und seinen Stolz reden, um andere zu täuschen. Das weiß ich aus eigener Erfahrung. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das ist nicht nur ein Artikel in unserem Grundgesetz. Es zählt für alle Menschen. Insbesondere für die Menschen von Shingal.

 

Bilder: Hammed Khamis

 

Wasser für Tamara – der gesamte Blog:

Wasser für Tamara (Blog) | seinsart

Teil 1  |  Kein Wasser für Tamara
Teil 2  |  Die Fixerin
Teil 3  |  Die Geister der Unbeschreiblichen
Teil 4  |  Zwischen Facebook und der Front
Teil 5  |  Gräber der Schande und der Scham
Teil 6  |  Im Labyrinth des Grauens
Teil 7  |  Still wie die Hölle
Teil 8  |  Khattuns Tränen
Teil 9  |  12.000 Brüder

Written by Hammed Khamis

Hammed Khamis wuchs in einer westdeutschen Gastarbeitersiedlung auf. Der Streetworker und Journalist ("Ansichten eines Banditen") setzt sich besonders für die Integration Jugendlicher mit Migrationshintergrund ein.

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