Morgens beim Frühstück im Hostel fällt mir auf, dass es im Buffet nur Süßkram gibt, nicht einmal Käse. Warum ist mir das vorher nicht aufgefallen? Als ich mich hinsetze, mustert mich eine Gruppe Franzosen. Warum schauen sie so? Denken sie auch, dass ich ein Flüchtling bin? Oder sehen sie mir bloß an, dass ich seit einer Woche nicht mehr schlafen kann? Meine Nerven liegen blank. Ich gebe mein Tablett ab und gehe aus dem Hotel in Richtung Dschungel. 
Für heute ist nichts geplant. Doch eigentlich war nie etwas geplant. Und wenn wir es versuchten, kam es im Dschungel eh immer anders. Der Dschungel hat seine eigenen Pläne.

Die Hamburger sind mir heute zu früh unterwegs gewesen. Sie haben die Einladung zu einer Messe in der Kirche wahrgenommen. Also gehe ich zu Fuß in Richtung des Dschungels. In der Innenstadt bemerke ich, dass es eine Ansammlung von Menschen am Bahnhof gibt. Eine Demonstration. Als ich näher komme, suche ich mir einen geeigneten Platz für die Kamera. Bei den Beamten zu stehen ist mir zu unsicher. Manchmal schmeißen Demonstranten Steine auf sie. Und die Demonstranten wirken wirklich schlecht gelaunt. Also entscheide ich, mitten auf der Straße stehenzubleiben und von dort aus zu fotografieren. So kann ich gleichzeitig ein wenig Aufmerksamkeit für die Demo beisteuern.

seinsart | Die Sache mit dem ZugIch sehe eine junge französische Frau mit einem Plakat in der Hand. Auf ihm steht der Name Ahmed Osman. Es sieht aus wie eine Art Sterbeurkunde. Darauf steht, dass Ahmed ein eritreischer Jugendlicher war. Ahmed ließ sein junges Leben auf einem Güterwagen, auf den er gesprungen war. Man fand ihn auf der englischen Seite des Tunnels leblos auf. Gefühlte einhundert Verwandte und Freunde von mir heißen Ahmed. Einer meiner besten Freunde heißt auch Ahmed. Ich muss an sie denken. Dieser Ahmed hatte bestimmt auch eine Familie und Freunde. 
Das Bild fesselt mich. Ich gehe langsam von der Straße auf die Demonstrantin zu, um sie zu fragen, ob ich das fotografieren darf. Sie nickt. Es kann nur eins sein. Es kann nur sein, dass es eine Gedenktafel für einen Flüchtling, der hier beim Versuch nach England zu reisen, sein Leben verloren hat.

Vor dem Schild nehme ich meine Mütze ab und verneige mich. Ahmed Osman ist nicht der einzige, dem heute eine Gedenktafel gewidmet wird. Für Abdelrahman wurde auch ein Schild gemacht. Samir und Youssef sollen auch niemals vergessen werden. Die Daten ihres Todes sind nur wenige Tage oder auch Wochen her. Wahrscheinlich habe ich einigen dieser jungen Männer die Hand gegeben oder sie beim Vorbeigehen im Camp gegrüßt. Vielleicht sind meine Wut und mein Frust, die mich gerade überkommen, übertrieben. Aber ich kann nicht aufhören daran zu denken, dass ich vielleicht einen jungen Mann mehr aufhalten hätte können. Vielleicht wäre es einer dieser Jungs gewesen, an die hier auf den Schildern erinnert wird. Vielleicht hätte ich ihm das Riskieren seines Lebens irgendwie ausreden können.

In einem kurzen Gespräch mit Jean, dem Veranstalter der Demo, erfahre ich, dass hier statistisch betrachtet ein Flüchtling pro Woche stirbt. Manche lassen ihr Leben, wenn sie vom Zug fallen. Andere ersticken im LKW, während sie versuchen, mit einer Plastiktüte den Ausstoß von Kohlenstoffdioxid aus ihren Mündern zu verhindern. 
Nun habe ich doch ein Ziel für heute. Nein, ich habe sogar zwei Ziele. 
Heute werde ich herausfinden, wie genau das mit dem Zug und den LKWs abläuft. Und ich werde Sebastian bitten, mich zum Friedhof zu bringen. Ich will an ihren Gräbern für sie beten.

Wir glauben, wenn ihr uns vor euch seht, werdet ihr uns nicht sterben lassen. Deswegen kommen wir nach Europa. Wenn ihr uns nicht helft, dann können wir nichts mehr tun. Wir werden sterben, und ihr werdet zusehen, wie wir sterben, und möge Gott uns allen gnädig sein.  (Isa El-Mahdi)

Im Dschungel angekommen treffe ich einige der Einwohner des Camps, die ich schon kenne. Man grüßt sich mittlerweile beim Vorbeigehen. Das ist ein gutes Gefühl. Mima, der eritreische Junge, springt lachend auf und umarmt mich, als hätten wir uns lange nicht gesehen. Mir kommt das Bild von seinem leblosen Körper auf den Gleisen in den Sinn. Ich kann nicht zurücklächeln. „Versprich mir, dass du aufhörst, auf diesen verfluchten Zug zu springen,“ bitte ich ihn eindringlich wie ein großer Bruder, während ich meine rechte Hand fest auf seine Schulter lege. 
Mima lächelt weiter und sagt mir gelassen, dass es gestern schon wieder ein paar Jungs nach England geschafft haben. Sie haben sich über WhatsApp gemeldet und Bilder aus Großbritannien geschickt. Ich muss passen. Alles, was ich jetzt sage, würde nur noch Zeitverschwendung sein.

Ich beschließe, Mima zum Essen einzuladen. Während wir im afghanischen Restaurant sitzen und auf unser Essen warten, bitte ich Mima, mir ganz genau zu erklären, wie die Sache mit dem Zug läuft. 
Mima erklärt mir, dass die meisten zu Fuß zu dem Bereich gehen, wo der Zug in den Eurotunnel fährt. Das ist der Bereich, wo ich die Jungs aus Hamburg kennengelernt habe. Um dahin zu kommen, geht man vom Dschungel 2-3 Stunden. Je nach Schritttempo. Dann versucht man an den ganzen Patrouillen und Hundestaffeln vorbei über die 5-7 Zäune zu klettern. Der letzte Zaun ist mit Strom geladen. Wenn man den letzten Zaun überwunden hat, steht man direkt auf den Gleisen, wo es nicht weniger gefährlich ist als auf dem Zaun oder unter einem Schäferhund. Man versucht dann laufend auf den fahrenden Zug zu springen.

seinsart | Atem, der das Leben nimmt

Der Zug hat zu dieser Zeit ein Tempo von etwa 40 km/h. Wenn die Polizei einen nicht erwischt, dann muss man sich nur noch bis zur englischen Seite irgendwo festhalten. 50 Kilometer und man ist am Ziel.
 Mima erzählt das so locker. Seine Augen sind voller Vorfreude, während er zu mir spricht. Es hört sich an, als würde er von einem Fußballspiel reden. 
Um ihn ein wenig in die Realität zurück zu holen, frage ich, ob er keine Angst vor dem Tod hat. Mima sagt mir, was mir alle hier im Camp auf diese Frage antworten: dass ihm ein Leben in England dieses Risko wert wäre. Das verwirrt mich. Es verwirrt meine Wahrnehmung von Recht und Moral.

Mich kostet es 14 Euro, um durch den Eurotunnel zu kommen. Mein Freund Mima wird dafür vielleicht mit seinem Leben bezahlen.

Das Essen kommt. Wir essen gebratenes Huhn mit Kartoffeln und Reis. Mima beginnt mir die Sache mit dem LKW zu erklären. 
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, in einen LKW zu kommen. Manchmal verschaffen Schleuser den Flüchtlingen einen Zugang auf das Gelände, wo die Fähre über das Meer nach England ablegt. Danach kommt nur noch eine einzige Kontrolle. Die französischen Beamten schieben ein Gerät in den Frachtraum des LKWs. Dieses Gerät misst den Ausstoß von Kohlenstoffdioxid. Wenn es ausschlägt, bedeutet das, dass Lebewesen im Inneren des LKWs sind. Um das zu verhindern, stülpen sich die Flüchtlinge eine Plastiktüte über den Kopf, um den Ausstoß ihres Atems aufzufangen. Der Atem, der sie verraten kann, soll nicht in den inneren Bereich des LKWs gelangen. Wenn einer die Tüte abnimmt, werden alle erwischt. Also versucht man, an seine Grenzen zu gehen. Manchmal kommt es vor, dass einer der Flüchtlinge dabei erstickt.

Jetzt ist Mima auch ein wenig benommen. Wahrscheinlich denkt er an einen Menschen, der hier aus dem Camp auf diese Weise sein Leben ließ. Das tut mir leid. Ich wollte Mima nicht traurig machen.
 Nach dem Essen trennen wir uns an dem Volontärscamp. Dort sehe ich Basti schon wieder mit dem schwarzen Kombi, wie er Menschen mit gebrochenen Beinen durchs Camp fährt. Er nimmt mich mit zur Kirche, wo sich Jarek und Leo gerade aufhalten.

Ich frage Jarek, ob sie auch vorhätten, zum Friedhof zu gehen. Er antwortet mir, dass dies für den letzten Tag geplant sei. Das ist sicher besser so. Denn das wird kein leichter Gang. 
Jarek stellt mir Pawel, einen polnischen Mann, vor, der sich gut im Camp auskennt. Mit ihm gehe ich ein wenig durch das Camp. Er kennt viele Leute hier und erzählt mir Geschichten aus dem Camp, die ein normaler Journalist niemals zu hören bekommt.

Pawel erklärt mir, dass man im Camp für zehn Euro eine Prostituierte bekommt. Als ich erstaunt darauf reagiere und ein paar Beleidigungen ausstoße, fügt Pawel hinzu, dass er sogar schon mal gehört hat, dass es eine Frau gibt, die es für 3 Euro macht. Was für ein Mann geht zu einer Prostituierten, die sich in einer solch misslichen Lebenssituation befindet? 
Danach erzählt er mir, dass eine Frau vom Zug gefallen ist, die sich dabei das Bein brach. Ihr Mann hat es nach England geschafft. In der Zeit ihrer Genesung wurde sie von einem Unbekannten vergewaltigt. Dabei wurde sie schwanger. Als ihr Mann dies erfuhr, schickte er jemanden vorbei, um sie zu töten. Sie, nicht den Vergewaltiger. Die Frau wurde von dem Attentäter schwer mit einem Messer verletzt. Andere Flüchtlinge im Camp haben nur knapp verhindert, dass er diese unschuldige Frau mit ihrem ohnehin unerträglichen Schicksal tötet.

Versprochen haben ihm viele Besucher etwas.
Aber Wort gehalten habe bislang noch keiner.

Ich brenne vor Wut. Nach welchem Recht, nach welcher Moral oder Religion ist so etwas erlaubt? Welche Form von Ehre erklärt so ein niedriges Handeln als ehrenhaft?
 Pawel bietet mir an, mich mit der Frau zusammenzubringen. Sie wäre bereit, in die Kamera zu sprechen, wenn man ihr Gesicht verbirgt. Das habe ich Jarek später angeboten, weil ich denke, dass sie über seinen Film mehr erreichen kann als über mich mit meinem Buch. Jarek lehnt dies aber aus Respekt vor der Geschichte dieser Frau ab. Niemand solle sich auf dem Rücken eines Menschen mit so einer Geschichte einen Vorteil verschaffe. Ich gebe ihm recht.

Pawel führt mich zu einer Hütte, in der ein Billardtisch steht. Da kann man für einen Euro in der Stunde Billard spielen und sich wie in einem Cafe bei Getränken und Snacks aufhalten. Ganz in der Nähe hat sich ein Sportbegeisterter ein Fitnessstudio errichtet. Sein Name ist Jack (siehe Titelbild). Er ist Nigerianer und versucht zur Zeit einen Platz in der Calaiser Mannschaft zu bekommen. Während er mir sein kleines Studio zeigt, erklärt er mir, dass er kurz davor stünde, beim hiesigen Fußballverein Calais Racing Union Football Club einen Vertrag zu bekommen. Das finde ich gut. Ich verspreche Jack ein Fußballtrikot. Er sagt mir, dass er nicht glaubt, dass ich wiederkommen werde.

Versprochen haben ihm viele Besucher etwas. Aber Wort gehalten habe bislang noch keiner. Ich muss an meinen Vater denken. Der würde sich jetzt herausgefordert fühlen.
 Ich glaube mich daran zu erinnern, dass ich in meinem Koffer noch ein Trikot der brasilianischen Nationalmannschaft habe. Wenn es noch da ist, dann werde ich es Jack schenken.

Ich danke Pawel für seine kleine Führung. Um diese Dinge in Erfahrung zu bringen, hätte ich sicher sehr viel Zeit gebraucht. Er hat mir vertraut.
 Diese Geschichten vertrauen sich die Anwohner nur untereinander an. Sie vertrauen nur denen, die auch dort leben. Wie hat Pawel es nur geschafft, all diese Menschen so für sich zu gewinnen? Er kann kein Arabisch. Und sein Englisch ist auch nicht gut. Ich spüre, dass Pawel mir etwas verheimlicht. Aber das ist nicht schlimm. Seine Erzählungen füllen Lücken in meinem Verständnis über den Dschungel. 
Am Ausgang zum Camp trenne ich mich von Pawel, um mit den Hamburgern zu gehen. Im Auto redet niemand. Sie scheinen sehr bedrückt. Also halte ich den Mund, um sie nicht noch weiter zu belasten.

Basti macht den Song Iron Sky von Paolo Nutini an. Das passt zu der Stimmung, die uns begleitet. Keinem von uns vieren geht es gut. Aber wir sind hier mit der Absicht, etwas zu schaffen, das den Menschen, die im Lager leben müssen, in irgendeiner Weise weiterhilft. Und das ist es wert. 
Ich muss gleich wieder alleine in meinem Zimmer mit dem Schlaf ringen. Aber ich muss nicht allein zum Hotel. Dafür bin ich den Jungs unendlich dankbar.

 

Bilder: Hammed Khamis

 

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Written by Hammed Khamis

Hammed Khamis wuchs in einer westdeutschen Gastarbeitersiedlung auf. Der Streetworker und Journalist ("Ansichten eines Banditen") setzt sich besonders für die Integration Jugendlicher mit Migrationshintergrund ein.

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