Während in Deutschland darüber diskutiert wird, wie viele Flüchtlinge noch kommen dürfen und wie die, die gekommen sind, integriert werden können, sind die Menschen in den Camps vor Europas Toren mit anderen katastrophalen Realitäten konfrontiert. Sich darüber zu informieren und auf dem Laufenden zu sein, ist eine Sache. Vor Ort mit den Menschen zu reden und die Situation mitzuerleben, eine andere.

Ich habe mich vor einigen Tagen auf den Weg gemacht und bin nach Idomeni geflogen, um mir ein eigenes Bild zu machen und vor Ort zu helfen. Die Vorbereitung vor so einer Reise ist sowohl mental als auch rein faktisch sehr wichtig, um vor Ort nicht selbst traumatisiert zu werden und zu resignieren. Also habe ich mich eingelesen. Texte aus der Zeitung und Erfahrungsberichte von freiwilligen Helfern, die vor Ort Unglaubliches leisten.

Aber auch diese Vorbereitung ist im Nachhinein nicht ausreichend. Bilder, die man in Deutschland in den sozialen Netzwerken sieht und miteinander teilt, verdeutlichen einem die Lage vor Ort – aber dort zu sein, ist eine Dimension, die man mit Worten und Bildern nicht ausdrücken kann. Ich hatte mir keinen wirklichen Schwerpunkt für diese Reise gesetzt (wenn so etwas überhaupt möglich ist), aber als aktive Feministin geht man mit einem anderen Blick durch ein Camp wie Idomeni als ein männlicher Journalist, der in offiziellem Auftrag für eine Tages- oder Wochenzeitung schreibt.

Als aktive Feministin geht man mit einem anderen Blick durch ein Camp wie Idomeni als ein männlicher Journalist.

Es ist keine Voreingenommenheit, die versuchen würde, Frauen und Mädchen per se als Opfer patriarchaler und hegemonialer Männlichkeit zu enttarnen. Ich würde es vielmehr als ein Bewusstsein für die generelle Situation und Benachteiligung von Frauen und Mädchen beschreiben. Die Auseinandersetzung mit feministischen Inhalten führt dazu, dass man Frauen und Mädchen auch in einem Camp wie Idomeni mit einem feministischen Blick begegnet und andere Fragen stellt. Da ich mir für meinen ersten Aufenthalt nicht vorgenommen hatte, Interviews zu führen, werde ich meine Eindrücke teilen.

In Idomeni leben (wenn das als leben beschrieben werden kann) 11.000 Menschen, darunter 5.000 Kinder. Wie viele davon Mädchen und Jungen sind, ist nicht bekannt. Laut Schätzungen der Uno sind es 50% Frauen, die als Flüchtlinge in Flüchtlingscamps leben. Ich kann dies nicht ganz bestätigen, denn es sind unglaublich viele junge Männer hier, die eine lange Fluchtgeschichte hinter sich haben. Aber die Frauen, Mütter, jungen Mädchen und älteren Frauen sind nicht in der Minderheit. Sie sind präsent. Sie sind da – und sie leben in diesen Camps unter anderen Bedingungen als es Männer tun.

Voranstellen sollte man, dass alle, die hier stranden, eine bewegende bis traurige Geschichte hinter sich haben. Keine Flüchtlingsgruppe sollte gegen die andere ausgespielt werden. Dennoch sehen sich Frauen und Mädchen mit anderen Schwierigkeiten konfrontiert als die Männer, die hier leben. Es beginnt mit der Versorgung der Kinder, der Hygiene des Frauenkörpers, des Ausgeliefertseins der allein geflüchteten Frauen und Mädchen. Frauen fliehen aus den gleichen Gründen wie Männer – vor Krieg und politischer Verfolgung. Frauen fliehen aber auch vor Zwangsheirat, Verfolgung und Genitalverstümmlung.

Frauen fliehen aus den gleichen Gründen wie Männer – aber auch vor Zwangsheirat, Verfolgung und Genitalverstümmlung.

Ein Flüchtlingscamp mit über 11.000 Menschen ist ein Ort, bei der jeder Flüchtling und insbesondere Kinder lernen, dass nur die Starken und Geschickten überleben. Die, die sich in die Schlange stellen und warten, bis sie dran sind, gehen oft leer aus, weil die Versorgung mit Essen und Trinken katastrophal bis desaströs ist. Alle Organisationen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, hier Essen und Getränke zu verteilen, stemmen die Versorgung der Menschen hier über Spenden.

Nichtregierungsorganisationen wie die ‚Ärzte ohne Grenzen‘ haben das Camp schon vor Wochen verlassen. Ihr Rückzug galt als Protest gegen das Abkommen zwischen der EU und der Türkei, demzufolge alle syrischen Flüchtlinge, die nach dem 20. März nach Griechenland gekommen sind, wieder in die Türkei zurückgebracht werden sollen. Schwangere und kranke Frauen werden seither nur noch von freiwilligen Ärzten vor Ort versorgt. Oft reichen Medikamente und Verbandzeug nicht aus, um als Arzt am Ende eines Tages zufrieden mit seiner Arbeit zu sein.

Die meisten Frauen, mit denen ich mich in Idomeni unterhalten habe, kamen aus Syrien oder dem autonomen Afrin. Aber auch viele kurdische Frauen aus dem Sindschar/Shingal-Gebirge. Unglaublich, welche Strecken diese Frauen mit ihren Kindern zu Fuß zurückgelegt haben. Die meisten von ihnen sind vor dem IS geflohen. Die Auflösung sozialer Strukturen in Kriegsgebieten trifft Frauen meist direkter als Männer. Die Gewaltbereitschaft steigt im privaten Bereich – aber auch auf Seiten des Feindes, der Frauen vergewaltigt, als Sex-Sklavinnen hält oder sie als ‚Foltermittel‘ gegen die eigenen Verwandten missbraucht.

crazyholidays

Die Kriegsstrategie, Frauen als Waffe zu benutzen, wird durch den IS systematisch praktiziert. Viele der hier gestrandeten jesidischen Frauen berichten über das brutale Vorgehen des IS gegenüber der jesidischen Bevölkerung. Hier wurden Frauen alleine deshalb in Gefangenschaft genommen, um sie als Sex-Sklavinnen zu misshandeln, zu missbrauchen und – wenn sie am Ende ihrer Kräfte sind – sadistisch zu foltern bis zum Tod.

Vergewaltigungen von Frauen und Mädchen werden schon lange systematisch als Kriegswaffe eingesetzt und können seit einigen Jahren als Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag verfolgt werden. Welche Frauen hier Opfer von Gewalt geworden sind, ist nicht dokumentiert oder irgendwie offensichtlich. Die Langzeitfolgen der Opfer sind nach meinen eigenen Recherchen nicht annähernd absehbar, weil das Überleben als weitere Kriegsfolge hier weiter aufrecht gehalten wird.

Man muss nicht traumapädagogisch ausgebildet sein, um bei Gesprächen festzustellen, dass die Kriegserfahrung hier in diesem Camp nicht im Vordergrund steht. Primär geht es um die Beschaffung von Essen und Trinken, um die Möglichkeit, Bedingungen für die Hygiene sicherzustellen. Hygiene ist im Diskurs der Flüchtlingsthematik ein Randthema, welches nicht oft thematisiert wird. Umso bedauerlicher, als es deutlich machen würde, unter welchen Voraussetzungen Frauen und Mädchen ihren Alltag bestreiten müssen.

Im Krieg steigt die Gewaltbereitschaft gegen Frauen –
auf beiden Seiten der Front.

Körperpolitisch betrachtet, muss man beim Thema ‚Flucht und Hygiene‘ Unterschiede zwischen Frauen- und Männerkörpern vornehmen. Frauen haben alleine durch die physischen Bedingungen einen anderen Anspruch auf Hygiene als Männer. Ein freiwilliger Arzt aus Deutschland erzählt mir, dass viele junge Mädchen und Frauen nicht ausreichend essen, um dadurch ihre Periode bewusst auszusetzen. Andere berichten mir von schwangeren Frauen aus den Camps, die panische Angst davor haben, ihre Kinder unter diesen Bedingungen nicht gesund gebären zu können.

Jeder, der nur annähernd empathisch ist, kann das nachvollziehen. Die meisten der geflüchteten Frauen sind auf sich alleine gestellt, Angst vor sexuellen Übergriffen und Gewalt ist ein ständiger Begleiter während der kompletten Flucht. Die meisten der allein geflohenen Frauen haben ihre Ehemänner, Väter oder Brüder im Krieg verloren oder sind in Gefangenschaft oder verschleppt. Der einzige Weg, sich und ihren Kindern das Überleben zu sichern, ist die Flucht nach Europa. Doch angekommen in Flüchtlingslagern, Camps oder Notunterkünften sind sie auf sich alleine gestellt und abermals sexuellen Übergriffen ausgesetzt.

Die Versorgung von allein geflohenen Frauen wird nicht als Härtefall oder besonderer Umstand behandelt, was den Frauen die Möglichkeit böte, nach einer langen Fluchterfahrung zur Ruhe zu kommen. Während in Deutschland über den Familiennachwuchs und die Einschränkung desselben gesprochen wird, thematisiert keiner den Schutz der betroffenen Frauen und Mädchen, die bereits auf dem Weg nach Europa sind. Welche Geschichten bringen diese Frauen mit, welche Traumatisierung werden sie als Langzeitfolge davon tragen? Reden wir noch über Menschen – oder über statistische Zahlen und wie diese abzurechnen sind?

Reden wir noch über Menschen –
oder über statistische Zahlen und wie diese abzurechnen sind?

Ich habe in Idomeni mit einem Mädchen gesprochen, das allein mit ihrer Mutter geflohen ist und sich im Camp um eine ältere Frau kümmert, die unter Bluthochdruck, Diabetes und einem gebrochenen Arm leidet. Da die ältere Frau nicht mehr laufen kann, muss sie zu den sanitären Anlagen mit dem Rollstuhl gebracht werden. Das Mädchen ist 15 Jahre alt und kümmerte sich um die Frau mit einer solchen Aufopferung, dass ich im Nachhinein nicht klar benennen kann, was es in mir ausgelöst hat. Diese Mädchen werden erwachsen während der Flucht, überspringen ihre Kindheit und Pubertät um Jahre. Ich möchte mir nicht einmal vorstellen, welche Kriegserfahrung sie zusätzlich für Leben geprägt hat.

Wir sollten keinen Unterschied zwischen geflohenen Männern und geflohenen Frauen machen, aber die Realität von geflüchteten Frauen und Mädchen zwingt uns hier nochmal genau hinzusehen. Zwingt uns auch in dieser perfiden Situation der Flüchtlinge zu erkennen, dass Frauen doppelt diskrimiert werden. Zum einen als Frau und zum anderen als Frau auf der Flucht. Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, diese Frauen seien bloß schwache Opfer einer desaströsen Europapolitik. Ich habe in Idomeni starke Frauen gesehen, die den Alltag in so einem Camp hervorragend meistern. Frauen, die sich um ihre eigenen und die Kinder von anderen Frauen kümmern. Die mit der Einteilung von Essen und Trinken das Überleben ihrer Familien sichern.

Über die sozialen Medien bekam ich viel Zuspruch für die Reise nach Idomeni, manche benutzen sogar den Begriff der Heldin. Ich bin keine Heldin. Ich bin mit dem Flugzeug nach Idomeni geflogen und habe in einer sicheren Unterkunft geschlafen. Die Heldinnen sind die Frauen und Mädchen in Idomeni, die trotz aller Umstände noch immer Hoffnung haben und ausharren. Die nicht resignieren und zusammenbrechen, die stundenlang in der Essensschlange stehen, um 2 Wraps, ein Ei, eine Orange und ein Stück Käse zu bekommen.

„Was haben sie aus uns gemacht?“ weinte eine Frau vor mir. „Wir sind keine Menschen mehr.“ Dann holte sie ihr Handy heraus und zeigte mir Bilder von ihrer Familie und ihrem Haus in Syrien. Mir wurde klar: Es könnten genauso meine Bilder sein.

 

Hier geht es zurück zu Tag 2: Die letzte Raststätte der Hoffnung.
Hier geht es weiter zu Tag 4: Leben wie ein Mensch.

 

Bilder: Elif Kahnert

Written by Elif Kahnert

Elif Kahnert ist studierte Erwachsenenbildnerin und systemischer Coach. Als Lehrbeauftragte hält und organisiert sie Seminare zur türkischen Frauenbewegung und bloggt unter anderem über Flüchtlingspolitik.

Schreibe einen Kommentar zu Anonymous Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.