Im kleinen Propellerflugzeug verteilt Geórgios rosa eingewickelte Schokoladentäfelchen. Er und seine Frau stammten aus Aminteo, einer kleinen Stadt im Norden von Griechenland, erzählt er, als das Flugzeug zur Startbahn knattert. „Wenn es kälter wird, ziehen wir um auf Lesbos. Es ist atemberaubend schön dort, du wirst es ja selber sehen.“ Als wir eine halbe Stunde später auf der kurzen Landebahn aufsetzen, weiß ich, er hat recht.

seinsart | Gebrochene Versprechen
„Atemberaubend schön dort, du wirst sehen.“

Der Gang aus dem Flughafen mündet am ersten einsamen Strand. Die türkische Küste wirkt so nah, als könnte man hinüber schwimmen. Ein paar Kilometer weiter strahlen kleine weiße Fassaden mit rotem Dach in der Sonne. Die griechische Lyrikerin Sappho schrieb hier ihre Liebesgedichte. „Wohlfühloase zum Wohlfühlpreis“, schreibt TUI 2500 Jahre später. Fast könnte man denken, Lesbos sei eine ganz normale Urlaubsinsel. Fast.

17 Schlauchboote oder das, was die Wellen von ihnen übrig gelassen haben auf 20 Minuten Fußweg. Die zurückgelassenen Schwimmwesten fange ich erst gar nicht an zu zählen. Ein kleiner lilafarbener Bär ruht seinen Kopf auf einem Streifen Verbandszeug aus. Eine gelbe Puppe versteckt ihren Kopf in einem Berg aus Schokoloadenriegel-Verpackungen. Kilometerlang geht das so. Dabei gilt dieser Küstenabschnitt im Osten von Lesbos als nicht sonderlich attraktiv für die Tausenden von Flüchtlingen, die jeden Tag die Insel erreichen.

seinsart | Gebrochene Versprechen
Die zurückgelassenen Schwimmwesten fange ich erst gar nicht an zu zählen.

Spätestens am Hafen von Mitlini erinnert dann gar nichts mehr an das einstige Urlaubsparadies. Rund 1000 Flüchtlinge stehen ordentlich neben- und hintereinander aufgereiht und warten, dass der Sicherheitsmann sie zur Laderampe durchwinkt. Stundenlang stehen sie da, ohne sich viel zu bewegen, in der Befürchtung, sie könnten ihren Platz in der Schlange verlieren. Vor ihnen gibt ein gigantische Fähre das Versprechen auf ein Europa, das auch sie nicht einlösen wird.

Mit dem Angebot, in meine Chipstüte zu greifen, nähere ich mich einem jungen Mann. 22 sagt er, sei er. Ich hätte ihn eher auf 14 geschätzt. Vor zwei Monaten hätten er und seine Familie sich entschlossen, aus Afghanistan zu fliehen, erzählt Ismael. Die Fahrt durch Iran und die Türkei fand er „erstaunlich einfach“. Dann kam Lesbos. „Wo ist deine Mutter?“, frage ich. „Sie ist im Meer geblieben.“ „Und dein Vater?“ „Er auch.“ Als ich nicht weiter nachfrage, tut er es. „Kannst du mir sagen, wie es jetzt weitergehen soll? Manchmal wünschte ich, das Meer hätte auch mich behalten.“ Ich kann es nicht.

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Vor ihnen gibt ein gigantische Fähre das Versprechen auf ein Europa, das auch sie nicht einlösen wird.

Der ganze nur von der Deckbeleuchtung der „Blue Star Fairy“ erhellte Betonplatz ist voll mit Geschichten, wie der von Ismael. In einer Pfütze spielen zwei Mädchen mit Steichholzschachteln ihre Flucht nach. Ein alter Mann röstet Kastanien im brennenden Müll. Ein Bus spuckt neue Familien aus, deren ganzes Leben nun auf zwei Pappkartons passt – und passen muss. Mehr Platz lässt ihnen die „Wohlfühloase“ nicht.

Auf dem Weg zum Hotel starrt mich ein junger Syrer vom Straßenrand an. „Ahlan wa Sahlan fi Europa“ (Herzlich Willkommenen in Europa), sage ich eher beiläufig, um das Gestarre zu beenden. Doch nun starrt er erst recht, fängt schließlich an zu lächeln und fällt mir um den Hals. „Du bist der Erste, der das zu mir sagt,“ ruft er mit Tränen in den Augen. Wie lange er von Lesbos nach Deutschland brauche, „zwei oder drei Tage?“ fragt er. Und ich denke, dass in diesem Europa selbst ein beiläufiges „Willkommen“ schon zu viel versprochen ist.

 

Bild: Fabian Köhler

Written by Fabian Köhler

Fabian Köhler hat in Jena und Damaskus Politik- und Islamwissenschaft studiert. Als freier Journalist schreibt er gern über und noch viel lieber aus Nahost. Auch wenn davon nicht mehr viel übrig ist.

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