Wir saßen vor einiger Zeit am sonntäglichen Frühstückstisch. Wie so oft war ein aktueller Bericht Anlass für ein breit ausgewälztes Thema. Diesmal ging es um Richard von Weizsäcker, seinen Tod und das Amt des Bundespräsidenten überhaupt.

Da ich der Meinung bin, dass sachgerechte Diskussionen ohne eine Basis von Faktenwissen nicht möglich sind, ließ ich mir von den Kindern die bisherigen Staatsoberhäupter runterbeten. Der Didaktiker in mir hält stures Faktenlernen natürlich für Blödsinn. So gab es zu allem kleine Geschichtchen, die sich dann assoziieren lassen.

Heuss: „Nun siegt mal schön!“
Lübke: „Wo bin ich? Wieder in einem Potenzmittel?“
Heinemann: „Ich liebe meine Frau, doch kein Land!“
Umso absurder, desto besser.

Die Reihe war an Richard von Weizsäcker.

Plötzlich schossen mir die Worte: Schlagstock, Tränen, Blut und Schreie durch den Kopf. Das Bild meiner blutenden und schreienden Freundin, deren zarter Arm durch den Rechtsstaatsknüppel gebrochen wurde, trat vor meine Augen. Absurd? Ungerecht? Nein, sondern Teil des politischen Wirkens eines Mannes, der nun – nach seinem Tod – in den Olymp der Säulenheiligen bugsiert wurde.

In diesem Augenblick fragte ich mich: Kannst du nicht vergeben oder gar vergessen? Gelten für dich Antonius Worte aus Shakespeares Julius Cäsar: „Was Menschen Übles tun, das überlebt sie – Das Gute wird mit ihnen oft begraben.“ Vergeben ja, vergessen niemals! Sollte nicht das alte lateinische Motto gelten: „De mortuis nihil nisi bene!“, dass nur Gutes über den Verstorbenen gesagt werden darf?

 

The Witch Is Dead: Lachen über den Tod?

Das erste Mal ins Grübeln kam ich über mein persönliches Gedenken, als Margaret Thatcher verstarb, und viele in Großbritannien auf der Straße tanzten und „Ding Dong! The Witch Is Dead“ sangen. Geht das? – Darf man sich über den Tod eines missliebigen politischen Gegners freuen, zumal er gar nicht mehr im Amt ist; einfach nur ein Mensch am Abend seines Lebens?

Unverständlich war mir die Freude der Menschen auf den britischen Straßen nicht. Zuviel hing mit der Eisernen Lady zusammen, das auch ich als gesellschaftszerstörend empfand. Sollte ich Mitgefühl für jemanden aufbringen, der selbst keines hatte, wenn er beispielsweise auf lapidaren Befehl Hunderte von jungen argentinischen Rekruten des Kreuzers General Belgrano auf den Grund des Atlantiks schickte? Kann ich für eine Frau Empathie empfinden, die alles Deutsche, also auch mich, so hasste, dass sie aktiv die Wiedervereinigung bekämpfte?

Nein, kein Bedauern, kein Mitleid, aber auch keine Freude. Trotzdem gestehe ich mir nach ihrem Tod zu, alles, was mit der Politikerin Thatcher zusammenhängt, mit Abscheu zu belegen – mein menschliches Recht. Klar, eine Margaret Thatcher polarisiert, aber ein Richard von Weizsäcker ist und bleibt doch Everybody’s Darling.

 

Als die Bevölkerung noch die Politik antrieb

Da die Nachrufe von Weizsäckers Verdiensten überquollen, brauche ich diese nicht zu wiederholen. Sie sind allen noch präsent. Gerade sein Bekenntnis am 8. Mai 1985, dass dies „ein Tag der Befreiung“ sei, spiegelt seinen Mut und seine Entschlossenheit wider, was ihn zu einem großen Staatsmann machte. Hm, wirklich?

Da hake ich gleich einmal ein. Hätte er dies und seine gesamte Rede so formulieren können, wenn diese Positionen nicht schon längst Konsens innerhalb der Bevölkerung gewesen wären? Nein. Er bekannte lediglich das, worin er mit dem Großteil der Bevölkerung übereinstimmte, machte es so zur Staatsposition, kam damit nur seiner Aufgabe nach.

Fatal wird das Gedenken an diese historische Rede, wenn in unserer Zeit leider oft tradiert wird, dass damit eine Initialzündung zum Umdenken bezüglich der NS-Zeit „von oben“ ausging. – Falsch und nochmals falsch, denn die Bundesrepublik vor 1990 zeichnete sich dadurch aus, dass die Bevölkerung die Politik vorantrieb und nicht umgekehrt, so wie es heute in einem anti-demokratischen Führungsriege-Denken weit verbreitet ist.

Für mich ist das kein Grund, Richard von Weizsäcker auf einen Sockel zu hieven. Ja, ich habe sogar einen Antrieb, diesen Sockel anzusägen: Seine Zeit als Regierender Bürgermeister von Berlin in den Jahren 1981 bis 1984, von der nun nur noch „als schwierige Zeit“ die Rede ist.

 

Bürgermeister Weizsäcker gegen das Klima des Diskurses

Kaum an der Macht ließ er seinen Kettenhund, den rechtsaußen stehenden Innensenator Heinrich Lummer, los, zerstörte die auf Konsens basierende „Berliner Linie der Vernunft“, die ein Weg zur Deeskalation zwischen Spekulanten-Unterstützern und Hausbesetzern hätte sein können. Es wird geradezu so getan, als ob die Frage im Raum stünde: „Wenn das der Kaiser wüsste …“

Für das, was passierte, trägt Richard von Weizsäcker die politische Verantwortung. Genauso wie für die Folgen, die auf der einen Seite eine Radikalisierung ohne Sinn und Verstand beförderte und auf der andere einen kranken Corpsgeist erstarken ließ. Das eine führte schlussendlich zu den infernalischen und hirnlosen Gewaltausbrüchen des 1. Mai, das andere dazu, dass Polizisten – wie vor gar nicht langer Zeit geschehen – sogar ihre Kollegen in Zivil straflos krankenhausreif schlagen dürfen.

Nach meiner Überzeugung hatte Kreuzberg 1981 dabei eine Signalwirkung für das gesamte Bundesgebiet. Weizsäckers Direktive vergiftete das Klima des Diskurses. Und, für mich persönlich?

 

Präsident Weizsäcker, der ganz große Staatsmann

Als wir nur dasaßen, 1981, am äußeren Ende der Sitzblockade, der Polizei-Knüppel immer wieder auf meine Freundin niedersauste, ich einen Kollegen des Schlägers anflehte, dem Einhalt zu gebieten, dieser nur lachte und mich abführte, da wurde ich zum Tier. Ich befreite mich und schlug die beiden Polizisten brutal zusammen; keine Gnade für die Schläger, das halte ich immer noch für richtig.

Dann setzte ich mein weinendes Feuerlöckchen aufs Moped und fuhr sie ins Krankenhaus. Dort fragte sie immer wieder: „Warum? Wir waren doch friedlich. Was ist das für ein Staat, der so etwas anordnet?“ Ein Staat und dessen Knüppelgewalt, den ich in den folgenden zwei Wochen mit aller Härte bekämpfte. Es war ein anderes Mädchen, das mich zur Besinnung brachte, mir ins Gewissen redete, dass Böses nicht mit Bösem bekämpft werden könne, mir durch Liebe das Gute zeigte.

Von Weizsäcker, was zeigte er mir im Verlauf seines weiteren Lebens? Das gute Deutschland! Wie kein anderer meisterte er mit Geschick und Diplomatie alle Klippen, stärkte das Ansehen unseres Landes. Ein Großer, ein ganz großer Staatsmann!

Als mich meine Tochter beim damaligen Frühstücksgespräch aus den Gedanken riss und fragte: „Wer war denn deiner Meinung nach der beste Bundespräsident?“, kam von mir deshalb ohne Zögern: „Richard von Weizsäcker.“

 

Bild: BPA

 

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Written by Bernd Daschek

Bernd Daschek studierte nach seiner Ausbildung zum Elektrotechniker Geschichte und Philosophie und ist zurzeit als Honorarlehrkraft tätig. Er schreibt und veröffentlicht seit Anfang 2014 erfolgreich Romane, Kurzgeschichten, Dramen, Glossen und Essays.

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