Im Jahre 1970 trieb ein Hollywood-Melodram weltweit Millionen von Kinogängern die Tränen in die Augen. Der Titel des Werks war gleichermaßen viel- wie nichtssagend: Love Story. Bemerkenswert daran war, dass ausgerechnet auf dem Höhepunkt der Hippie-Bewegung, die bekanntlich die freie Liebe propagierte, ein Film erfolgreich sein konnte, der das monogame Ideal zum Thema hatte. Zugegeben, die weibliche Protagonistin starb viel zu jung, als dass man hätte beurteilen können, ob das Liebesglück von Dauer gewesen wäre.

Eine denkbare Antwort lieferte Hollywood neun Jahre später mit dem nicht weniger erfolgreichen Streifen Kramer gegen Kramer. Da gerät die einst in Liebe geehelichte Hausfrau und Mutter in eine nachvollziehbare Sinnkrise, just zu dem Zeitpunkt, als ihr Gatte beruflich zur Höchstform aufläuft. Die Folgen sind Scheidung, beruflicher Abstieg und ein hässlicher Sorgerechtsstreit.

Beide Storys, so verschieden sie auch sind, beschreiben relativ moderne Phänomene. Vor 200 Jahren wären Autoren mit solchen Geschichten weitgehend auf Unverständnis gestoßen. Seinerzeit wurden Ehen arrangiert und an Scheidung nicht mal gedacht. Basta! Standeszugehörigkeit spielte eine große Rolle, religiöse Bindungen ohnehin, und jede Menge „Vernunftsgründe“ wie Erbhöfe und Ähnliches. Alles Heiratsmotive jenseits von Gefühlen und Leidenschaften. Eine Vermählung aus Herzensgründen fand nur in Ausnahmefällen statt. Oder durch Zufall, wenn zwei junge Leute beim arrangierten ersten Zusammentreffen unisono hauchten: «Wow!»

Polyamorie | seinsart

Sicher, es gab literarische Bekenntnisse der anderen Art. William Shakespeare hat über die toskanischen Adelssprösslinge Romeo Montague und Julia Capulet eine, wenn nicht die Liebesgeschichte der Weltliteratur erzählt. Aber ein Happy End hatte diese Story ebensowenig wie anderthalb Jahrhunderte später der Briefroman Julie ou la Nouvelle Héloïse des großen französischen Aufklärers Jean-Jacques Rousseau.

Weder hat Shakespeare das dramaturgische Prinzip von Liebe und Leiden erfunden, noch kam es mit Love Story zum Ende. Natürlich nicht, denn das sind die Stoffe, die ans Herz gehen und ihre Urheber reich und berühmt machen. Weil sie nämlich mit den Sehnsüchten und Ängsten des Publikums spielen und nicht deren Wirklichkeit abbilden. Wie aber sah die Realität einst aus – und wie heute?

Weder hat Shakespeare das dramaturgische Prinzip von Liebe und Leiden erfunden, noch kam es mit Love Story zum Ende.

Die Liebe führte Brautpaare erst ziemlich spät in die Standesämter und vor die Altäre. Noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts war das höchst selten so. Die aufkommende bürgerliche Frauenbewegung kritisierte die damals übliche Versorgungsehe als unsittlich. Romantische Gefühle kamen erst langsam in Mode, und in der Folge entstand zaghaft die Idee einer Liebesheirat. Inzwischen schnappen sich junge Bräute den vermeintlichen Traumprinzen und stehen am Tag der Eheschließung im Zenit ihrer prophetischen Fähigkeiten, wenn sie sagen: «Dies ist der schönste Tag in meinem Leben!»

Okay, es gab auch weiterhin nicht nur Liebesheiraten. Manche «mussten» sich auch das Ja-Wort geben, weil ledige Mütter und deren Kinder noch gesellschaftlich geächtet wurden. Und wer immer einem jungen, unverheirateten Liebespaar Obdach bot, musste mit strafrechtlicher Verfolgung rechnen. Abermals hatte die Frauenbewegung keinen geringen Anteil daran, dass das aufhörte und westdeutsche Ehefrauen endlich auch gegen den Willen ihres Gatten einer beruflichen Tätigkeit nachgehen durften. Das ist gerade mal 40 Jahre her! Und die Vergewaltigung in der Ehe ist hierzulande überhaupt erst seit 1997 strafbar.

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Gründe hätte es also genug gegeben, über neue Formen des Zusammenlebens nachzudenken. Doch trotz «sexueller Revolution» und der Sprüche der 68er («Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment!») – die monogame Zweierbeziehung gilt den meisten unserer Zeitgenossen noch immer als die Idealform einer Partnerschaft – und die muss längst nicht mehr zwangsläufig heterosexuell sein oder gar durch einen Trauschein legitimiert. Man träumt von der gelebten und geliebten Zweisamkeit, und zwar unabhängig davon, dass kaum noch jemand an die lebenslange «Treue» glaubt.

Trotz «sexueller Revolution» gilt die Zweierbeziehung als Idealform einer Partnerschaft.

Deshalb haben die Bewohner aufgeklärter Zivilgesellschaften die «offenen Beziehungen» entdeckt, die Swingerclubs und die Gangbang-Partys. Und wenn alles nichts hilft, beschreitet man den Weg zum Scheidungsrichter und beginnt mit einem neuen Partner das Spiel von vorn. Die beiden Hauptdarsteller aus Love Story brachten es in ihrem privaten Leben immerhin auf fünf Ehen und eine 17 Jahre währende On-off-Beziehung.

Ihnen passierte eben das, was Millionen weniger prominenter Menschen der westlichen Welt auch kennen: Der monogame Anspruch gerät in Konflikt mit der polygamen Gefühlswelt der Primaten, zu denen wir nun mal zählen. In einer Gesellschaft, die diesen Widerspruch thematisiert, konnte man darauf wetten, dass irgendeine Gruppe ideologischer Weltverbesserer mit einer Vision um die Ecke kommt.

 

Polyamorie als Idee

Die Vorstellung einer Lebensform jenseits der Monogamie kommt aus den Vereinigten Staaten, und dort hat man dem Kind auch den Namen gegeben: Polyamory. Der Vorteil dieses Begriffs ist, dass er auch von jenen verstanden wird, die nie einen Leistungskurs Latein belegt haben, und dass er sich in nahezu alle Sprachen der westlichen Welt übersetzen lässt: Polyamorie, polyamour, poliamor, polyamoria …

Die polyamore Community hierzulande zeichnet sich dadurch aus, dass sie erfreulich unideologisch agiert. Es gibt zwar eine Website mit vielen Texten, darunter auch ein «Polyamorisches Manifest», aber mehr als das Hauptmotto (wenn überhaupt) wird in den Gesprächen mit mir nicht zitiert: «Anstelle von freiem Sex brauchen wir freie Liebe und Verliebtheit! Im Unterschied zur Liebe und Verliebtheit, die keinerlei Begrenzungen bedürfen, muss der Sex immer unter Kontrolle sein!» Fast möchte man annehmen, das Motto ist mit Absicht so allgemein und missverständlich gehalten, damit auch die anderen Schriften gelesen werden.

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In meinen Gesprächen mit polyamor lebenden Menschen zwischen Berlin und Stuttgart habe ich allerdings keinen Hinweis darauf gefunden, dass sie sich auch mit dem Rest der Theorie auseinandergesetzt hätten. Es ist nicht einmal klar, inwiefern der Einfluss neuheidnischer Gruppen auf die polyamore Bewegung in den USA bekannt ist. Ja, ob man in diesen Kreisen die Neuheiden überhaupt kennt.

Es ist vielleicht auch gar nicht wichtig, aber da sie nun mal erwähnt sind, nur so viel: Die Neuheiden versuchen so etwas wie die Rückbesinnung auf keltische Traditionen und auf eine angebliche Urreligion. Keine Ideologie ohne Gurus, und einer, dessen Schrift sie alle lesen, heißt Robert A. Heinlein. Rechtzeitig vor dem «Summer of love», im Jahr 1961, um genau zu sein, hat er in seinem Roman „Stranger in a Strange Land“ eine sonderbare Geschichte erzählt.

Ein Marsianer gründet eine Kommune namens «Church of All Worlds», in der Orgien und sexuelle Ausschweifungen stattfinden, mit dem Ziel, durch das Erlernen telepathischer Fähigkeiten das Leben der Erdbewohner zu verändern. Nun existiert der Marsianer zwar nur in der Phantasie von Bob Heinlein, seine Jünger jedoch haben sich diese finale Zielsetzung zur Lebensaufgabe gemacht. Und sie haben dafür einen Namen: Polyamorie, polyamour, poliamor, polyamoria …

 

Polyamorie als Lebensform

Die leitende Angestellte eines mittelständischen Unternehmens in Bayern schrieb mir: «Ich hatte zuletzt eine offene Beziehung (mit Mann A), in der ich die Möglichkeit einer mehrjährigen Affäre als eine Art Zweit-Beziehung hatte. Seitdem ich es zu schätzen weiß, zu mehreren Partnern ein intimes Verhältnis haben zu können, ohne dass sich jemand vernachlässigt fühlt, ist mein Verlangen nach einer rein monogamen Beziehung praktisch nicht mehr vorhanden. Der Mann mit dem «beziehungsähnlichen Verhältnis» (nennen wir ihn Mann B) steht mir sehr nahe und würde auch eine richtige Beziehung mit mir eingehen, die ich aber aufgrund der Tatsache, dass er nur auf Monogamie bedacht ist, nicht eingehen möchte. In meiner Selbstwahrnehmung als polyamouröser Single würde ich mich mit folgenden Worten beschreiben: Ich mag es, sehr unterschiedliche Menschen kennenzulernen, auch, mich zu verlieben, würde mich aber nicht meiner Freiheit berauben lassen, indem ich mich fest binden muss.»

Geburtstagspartys können da schnell zu riesigen
Familienfeiern ausarten.

Genau das verstehen andere polyamor lebende Menschen ganz anders. Sie würden Polyamarie schon eher als eine Lebensform bezeichnen, in der alle Parallel-Beziehungen als verantwortungsvolle Bindungen geführt werden. Und das bei voller Kenntnis und Duldung aller Beteiligten. Es versteht sich von selbst, dass jeder Beziehungspartner seinerseits ebenfalls das Recht hat, weitere Partnerschaften einzugehen. Da könnten Geburtstagspartys mal schnell zu riesigen Familienfeiern ausarten – wenn es denn so laufen würde.

Ein Vorzeigepaar polyamorer Lebenskunst sind Jörg und Lisa. Sie leben gemeinsam mit Lisas Zweitmann in Berlin-Mitte. Das Trio wäre nichts weiter als eine traditionelle Ménage-à-trois, wobei das in Fachkreisen bereits als kleinste Einheit von Polyamorie angesehen wird. Aber auch Jörg begnügt sich nicht mit einer halben Lisa, sondern hat noch zwei weitere Beziehungen. Und weil es eine Menge Zeit kostet, sich um drei Frauen zu kümmern, hat der ehemalige Erzieher sich eine Stelle als Hausmeister gesucht. So kann er die Arbeitszeit flexibel gestalten und seinen Verantwortlichkeiten nachkommen.

PartridgesStrachey

Jörg erinnert sich, wie das bei ihm losging mit der «polyamoren Veranlagung». Da war er Anfang 20 – 40 Jahre ist das jetzt her. «Zunächst war es so, dass ich mit einer Frau zusammen war und auch nach meinem eigenen Anspruch davon ausging, dass mich andere Frauen als potenzielle Lebenspartnerinnen nicht interessieren dürften. Höchstens auf einer freundschaftlichen Ebene oder so. Trotzdem passierte es, und plötzlich konnte ich mir eine weitere Partnerschaft vorstellen, neben der, die ich bereits hatte. Ich hab dann mit meinen jeweiligen Partnerinnen geredet, und da wurde es eben schwierig.» Es ist nicht anzunehmen, dass Jörg über die Reaktionen der ihm zugeneigten Damen wirklich überrascht gewesen ist. Was aber sollte er denn tun, wenn seine Gefühlswelt mit der herrschenden Gesellschaftsmoral nicht kompatibel war?

Er war Mitte 20 und in einer ersten Ehe gefangen, als er den Versuch unternahm, das Thema «Mehrfachliebe» – wie man damals hierzulande noch sagte – mit seiner Frau zu besprechen. Dafür gab es auch einen ganz konkreten Anlass. Jörg machte zu dieser Zeit eine Ausbildung zum Erzieher, und weil das nun mal in erster Linie ein Frauenberuf war, ergaben sich unter seinen Kommilitoninnen viele Gelegenheiten. Und so kam der Tag, als er mit einer im Bett gelandet war, und dies unter keinen Umständen als ein singuläres Ereignis zu betrachten war.

Er arrangierte ein Treffen zwischen der Geliebten und der Gattin, das ohne ihn stattfand.

Er wollte die Sache aber auch nicht als heimliche Affäre fortführen. Folglich arrangierte er ein Treffen zwischen der Geliebten und der Gattin, das ohne ihn stattfand. Nach dem Treffen wirkte die Gattin sehr berührt und sagte: «Ich kann dich verstehen, und wenn ich du wäre, hätte ich mich auch in sie verliebt.» Allerdings waren die beiden Frauen übereingekommen, die Dreiecksbeziehung nicht fortzusetzen.

Jörgs erster Versuch in Richtung Polyamorie war damit gescheitert. Dummerweise war seine Frau eine Studentin der Sozialwissenschaften, und so hatte er nun eine «Diskussion über das Rollenverhalten der Geschlechter in Beziehungen» an der Backe. Jörg nennt dies «die Zeit der inhaltlichen Auseinandersetzung». Solche Gespräche führen ja bekanntlich nicht nur zur Schärfung der eigenen Ansichten, sondern eben auch zur Abgrenzung. Und wenn die antagonistische Position von der eigenen Frau eingenommen wird, so ist das für die Ehe nicht gerade förderlich. Die letzte inhaltliche Übereinstimmung des Ehepaares bestand dann auch in dem gemeinsamen Ziel, den Scheidungsrichter aufzusuchen.

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Genau in dieser Zeit saß Lisa in einem Wilhelm-Reich-Seminar, in dem die Texte des Psychoanalytikers und Sexualforschers «Satz für Satz auseinandergenommen» wurden. Sie verstand die Fragmente so: «Durch alte Verhaltensmuster werden Menschen in ihrer Individualität eingeschränkt und dumm und unflexibel gemacht.» Weil Lisa aber nicht dumm und unflexibel sein wollte, war sie nur allzu bereit, «die Ehrlichkeit und Offenheit in diesen Kreisen total anziehend» zu finden. Und in der Runde war jemand, der Lisa seinerseits total anziehend fand: Jörg.

Aber eine «heißentflammte Liebe» sei es zwischen ihnen dennoch nie gewesen, erinnern sich beide, wohl aber eine Beziehung, in der sich mit den Jahren eine große Vertrautheit ergeben habe. Natürlich habe die «Mehrfachliebe» auch zu Problemen geführt, schließlich seien sie ja «bürgerlich sozialisiert», erzählt Lisa. «Eifersucht, Verlustängste und die ganze Palette» könne man schließlich nicht einfach abschütteln. Nun aber, mit zunehmendem Alter, mit der Erfahrung auch und dem vertrauten Umgang mit allen Nebenpartnern werde dieses Leben endlich leichter, sagt Jörg, und Lisa nickt eifrig mit dem Kopf.

Eifersucht, Verlustängste und die ganze Palette
lassen sich nicht einfach abschütteln.

Nach mehr als drei Jahrzehnten gelebter Polyamerie, davon 17 Jahre mit Trauschein, sind die beiden (sowie ihre diversen Partnerinnen und Partner) der lebende Beweis dafür, dass dieses Lebensmodell mehr sein kann als eine vorübergehende Laune. Sie sind also zu Recht so etwas wie ein Vorzeigepaar für den polyamoren Nachwuchs, der noch mit all den Schwierigkeiten zu kämpfen hat, die sie bereits hinter sich gebracht haben. Daher moderiert Jörg seit einiger Zeit einen monatlichen Jour fixe, bei dem sich Gleichgesinnte alles von der Seele reden können – vorausgesetzt, ihr «Thema» wird von der Gruppe als interessant genug angesehen…

 

Die polyamoren Stammtischler

Der Stuhlkreis im Hinterzimmer einer Pankower Szenekneipe ist sicher nicht repräsentativ für die gesamte polyamore Bewegung hierzulande. Für diejenigen aber, die über Probleme sprechen wollen, wahrscheinlich schon. Demnach sind es vorwiegend Männer, die das Bedürfnis haben, sich auszusprechen. Immerhin sind 19 Gentlemen erschienen und nur fünf Damen. Nun könnte man mutmaßen, weil es traditionell immer eher die Herren der Schöpfung waren, die moralisch aus der Reihe tanzten, sei es nur logisch, dass es ihnen mehr zu schaffen mache, wenn die Frauen ein solches Recht nun auch mal für sich reklamierten.

Jörg begrüßt die Runde und zeigt sich freudig überrascht, dass «viele neue Gesichter» erschienen seien. Deshalb erläutert er, wie das üblicherweise hier so läuft. Zunächst solle sich jeder mit Vornamen vorstellen, und wer einen Themenvorschlag machen wolle, solle dies bitte tun. Würden mehr als zwei eingehen, würde abgestimmt, welche beiden Problemkreise anschließend jeweils 30 Minuten in der Gruppe diskutiert würden. Anschließend sei dann die strenge Ordnung des Stuhlkreises mit Wortmeldung und so aufgehoben, um auch Gesprächen in kleinerer Formation eine Chance zu geben.

Dumm nur, dass die Runde sich lieber den Themen «Offenheit» und «Erschüttertes Vertrauen» zuwenden will.

Anna fällt auf – mir zumindest. Sie ist eine junge androgyn anmutende Frau, die mit scheuem Blick durch starke Brillengläser die Runde checkt. Vor allem ist sie im Gegensatz zu ihren vier Geschlechtsgenossinnen allein erschienen. Als sie an der Reihe ist, erklärt sie mit leiser Stimme, sie sei selbst nicht polyamor, wohl aber ihr Freund. Das rufe bei ihr Eifersucht hervor. Deshalb sei sie hier, um von polyamor lebenden Menschen zu erfahren, wie man die Eifersucht loswerden könne. Zu dumm nur, dass die Runde sich lieber den Themen «Offenheit» und «Erschüttertes Vertrauen» zuwenden will. Fortan stiert Anna wie abwesend vor sich hin. Nur ihr hektisch wippender Fuß verrät ihre innere Aufregung. Ich spüre, dass die junge Frau Fragen über Fragen hat – Antworten darf sie hier aber kaum erwarten.

Polyamorie | seinsart

Das Thema «Erschüttertes Vertrauen» wurde sicher deshalb ausgewählt, weil Peter, ein kräftig gebauter Durchschnittsbürger, den Themenwunsch mit einem aktuellen Fall zu verbinden wusste, was den meisten der polyamor veranlagten Anwesenden näherging als das Anliegen von Anna, der Außenseiterin. Schon als er sein Thema vorschlug, sprach er von seiner Freundin, mit der er sechs Monate zusammen war. Sie habe in Göttingen noch einen anderen Geliebten gehabt, was seinem polyamoren Anspruch ja gar nicht widersprochen habe. Im Gegenteil, man sei auch mal zusammengetroffen und habe zu dritt einen netten Kneipenabend verbracht.

Dann aber habe sie nach einer Göttingen-Reise vier Wochen Zeit verstreichen lassen, um ihn dann doch noch darüber zu informieren, dass der andere ihr einen Heiratsantrag gemacht und sie diesen angenommen habe. Er sei verletzt, sagt Peter. Niemand in der Runde stellt die bei einem polyamor veranlagten Menschen naheliegende Frage, die er seiner Freundin hätte stellen sollen. Die Frage nämlich, wie ihr künftiger Gatte dazu stehe, dass sie in Berlin noch eine weitere Beziehung habe. Also frage ich. Peter aber winkt ab.

Niemand stellt die Frage, wie ihr künftiger Gatte dazu stehe, dass sie in Berlin noch eine weitere Beziehung hat.

Die Dame habe die Beziehung zu ihm beendet, um es doch mal wieder mit der Zweisamkeit zu versuchen. Der Verdacht liegt nahe, dass Peter seiner Ex übelnimmt, dass sie diese Zweisamkeit nicht mit ihm teilen möchte. Er wäre besser beraten gewesen, Annas Vorschlag zu folgen und sich über das Thema «Eifersucht» auszutauschen. Es wird diskutiert wie in dem Proseminar eines soziologischen Instituts, wenngleich nicht auf demselben intellektuellen Niveau. Dazu ist die Gruppe sozial und bildungsmäßig zu heterogen.

Polyamorie ist augenscheinlich eine Neigung, die verschiedene soziale Schichten verspüren, wenngleich ich Zweifel habe, dass alle darunter dasselbe verstehen. Aber mit Definitionen hält man sich trotz der «vielen neuen Gesichter» gar nicht erst auf. Statt dessen fallen Sätze wie «Jeder produziert seinen Schmerz selbst!» oder «Schuldgefühle sind ein Zeichen mangelnden Selbstwertgefühls». Aussagen, die kopfnickend hingenommen und nicht hinterfragt werden. Die Lust zum Konsens verleiht dieser Zusammenkunft mehr und mehr den Charakter einer Selbsthilfegruppe.

Polyamorie | seinsart

Durchschnittsbürger Peter aber will sprechen. Unbedingt sogar und ausführlich. Er will den anderen mitteilen, wie er sich fühlt, beginnt über seinen Schmerz zu referieren. Er fühle sich nicht etwa verletzt, weil seine Freundin noch einen andern habe, und auch nicht, weil sie den anderen heiraten werde, sondern weil sie ihn vier Wochen lang im Unklaren gelassen habe. Ein Mann neben ihm sagt mit verständnisvollem Blick: «Ich kann nachvollziehen, dass das weh tut!» Und ein anderer: «Es tut aber auch gut, wenn es weh tut!» Der Moderator referiert über «unterschiedliche Voraussetzungen in einer jeden Beziehung». Das alles hilft dem guten Peter wenig. Man spürt seine Unzufriedenheit, aber sagen tut er das nicht.

Dann ist das Thema «Offenheit» dran, das Heinz und Kerstin eingebracht haben, die seit neun Jahren zusammen sind. Heinz unterhält seit einiger Zeit noch eine Beziehung zu Daniela und Kerstin zu Haroun. Kerstin erzählt von einem Kneipenabend zu viert und von ihren zwiespältigen Gefühlen, als sie ihre Hände plötzlich auf den Knien ihrer beiden Männer hatte. Durch diese süße kleine Episode fühlen sich nun auch andere Teilnehmer dazu animiert, ihrerseits von Ereignissen zu berichten, die ähnlich verlaufen sind und vergleichbar zwiespältige Gefühle hervorgerufen haben.

Kerstin erzählt von ihren zwiespältigen Gefühlen, als sie ihre Hände plötzlich auf den Knien ihrer beiden Männer hatte.

Es bleibt unklar, ob es zu einer vertiefenden Analyse dieser als verstörend empfundenen Emotionen gekommen wäre, wenn Jörg nicht mit Blick auf die Uhr den Beginn der Diskussion in Kleingruppen angekündigt hätte. Ich habe hier nichts erfahren, was ich nicht von Jörg und Lisa schon wusste: Schuldgefühle, Eifersucht und Verletzungen sind in polyamoren Kreisen ebenso ein Thema wie in der traditionellen Monogamie.

Wer erwartet hatte, einen heftigen Diskurs über den Weg zu einer großen gesellschaftlichen Vision zu erleben, wird enttäuscht. Für ein alternatives Lebensmodell müssten ganz andere Fragen gestellt werden. Etwa: In welcher der Mehrfach-Beziehungen möchte man alt werden? Wer wird für einen da sein, sollte man zum Pflegefall werden? In polyamoren Foren in den USA wird diesbezüglich über Mehrgenerationen-Kommunen nachgedacht. Hier und da ist man auch schon an die Realisierung gegangen. Im Hinterzimmer einer Pankower Szenenkneipe aber ist man eher an den Fragen des Hier und Jetzt interessiert, und vielleicht ist das auch gut so. Sie sind eben erfrischend unideologisch, die polyamoren Deutschen.

 

Bilder: PretzelpawstheopenreelPhilipp Otto RungeZack Coppingashleyamoscocoparisienne

 

 

Die enthemmten Deutschen | seinsartGerhard Haase-Hindenbergs neues Werk „Die enthemmten Deutschen. Von der neuen Lust am Sex“ ist im Juni 2016 im Rowohlt-Verlag erschienen. Darin sucht der Autor das Gespräch mit Menschen, die ihre unterschiedlichen erotischen Interessen aktiv ausleben. Er trifft sie auf Gangbang- und Wifeshare-Partys, bei Petplay-Treffen, beim Parkplatz-Sex und zeichnet das Bild einer zunehmend enthemmten Gesellschaft, deren Schamgrenzen sich mehr und mehr verschieben.

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Written by Gerhard Haase-Hindenberg

Gerhard Haase-Hindenberg ist Schauspieler ("Operation Walküre") und Publizist (»Die Hexe von Gushiegu«, »Der Mann, der die Mauer öffnete«, »Göttin auf Zeit«). Sein neues Buch »Sex ist Kopf« wurde über Nacht zum Bestseller und stand wochenlang in der Spiegel-Bestseller-Liste.

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