Deutschland trauert um seinen beliebtesten Kanzler: 33 Jahre nach dem Sturz Helmut Schmidts durch den CDU-Vorsitzenden Helmut Kohl am 1. Oktober 1982 starb der ehemalige Regierungschef gegen 14:30 Uhr im Kreis seiner Pfleger und Angehörigen. Schon vor zwei Monaten hatte der Gesundheitszustand des 96-Jährigen ersten Anlass zur Sorge gegeben; eine Thrombose brachte ihn im September zunächst auf die Intensivstation und dann sogar zum Verzicht auf das so innig geliebte Nikotin.

Noch Ende April hatte der 96jährige Bundeskanzler a.D. in der Sendung „Menschen bei Maischberger“ über 70 Minuten lang Rede und Antwort zu Geschichte und Zeitgeschehen gestanden. Voller Eigensinn und mit scharfer Zunge verweigerte er sich auch diesmal jedem Versuch der Moderatorin, ihn zu schlagzeilentauglichen, aber wenig differenzierten Aussagen zu bewegen. In Erinnerung blieb mir u.a. die mit einem Schmunzeln vorgebrachte Antwort Schmidts auf Maischbergers Frage nach Putins angeblichem Pariastatus: „Wie soll man denn jemandem etwas glauben, der erst das eine und dann das andere sagt?“, die da lautete: „Das ist normal bei Politikern. Das hat nichts damit zu tun, dass Putin ein russischer Politiker ist. Das finden Sie anders genauso.“

Helmut Schmidts Charakter war beileibe nicht so eindimensional, wie es der gängigen Satire zufolge gelegentlich den Anschein hat. Hinter dem Klischee der ewig qualmenden und angriffslustigen „Schmidt Schnauze“ verbarg sich ein hoch komplexer, an Widersprüchen und Brüchen ebenso reicher Mann wie jene Zeit, die er durch sein langes Leben und Wirken aktiv begleitet und mitgestaltet hat. Der als kühl und arrogant verschriene Kanzler, der seinem Nachfolger einmal attestierte, wenn man Visionen habe, gehöre man zum Arzt, hatte auch eine feinsinnige und äußerst musische Seite.

In seiner aktiven Zeit als Regierungschef sorgte Schmidt für Kunst im Kanzleramt: Ob das legendäre „Nolde-Zimmer“ (sein persönliches Arbeitszimmer) oder der Ankauf der inzwischen denkmalgeschützten Skulptur „Large Two Forms“ von Henry Moore – Schmidts gute Kontakte zu den Künstlern und Kulturpolitikern seiner Zeit ließen ihn bald sogar zum internationalen Patron der deutschen Expressionisten werden. Für geistige Erbauung sorgte u.a. der Philosoph Karl Popper, mit dem der Kanzler – wie schon sein „Vorgänger“ Friedrich II. mit Voltaire – zu den großen Fragen zu korrespondieren pflegte.

Im Gegensatz zu seinen Nachfolgern Kohl und Schröder verstand es Helmut Schmidt meisterhaft, die Rolle des „elder statesman“ mit Leben zu füllen. Seine fachliche Kompetenz, seine hohe Belesenheit und die bereits eingangs zitierte Fähigkeit, komplexe Sachverhalte pointiert, aber nicht tendenziös zu kommentieren, machten aus ihm einen gern gesehenen Gast im Fernsehen wie auf der Bühne. Diese späte Popularität war dem politisch isolierten Kanzler zu Beginn seines Ruhestands durchaus nicht anzumerken; nur einen Monat vor seinem Sturz hatte er noch zu Protokoll gegeben: „Ich habe bis zu diesem Mittwoch jede denkbare Anstrengung zur Aufrechterhaltung der Gemeinsamkeit unternommen – gegen die Skepsis fast der gesamten deutschen Presse und gegen viele Skeptiker in beiden Koalitionsfraktionen. Ich habe es an gutem Willen nicht fehlen lassen.“

Schmidt war nicht nur der Opposition und dem Koalitionspartner, sondern auch seiner eigenen Partei lange Zeit suspekt. Zu militaristisch, zu kapitalistisch, zu kernkraftverliebt – um nur einige der Kritikpunkte zu zitieren. Der große historische Wurf der SPD-Herrschaft ging denn auch zweifellos auf das Konto seines Vorgängers und ewigen Parteivorsitzenden, Willy Brandt: die legendäre Entspannungspolitik. Unter Schmidts Regentschaft aber fielen ungleich größere politische Herausforderungen wie die weltweite Ölkrise, der Deutsche (Terror-)Herbst und die Bedrohung Europas durch die atomaren Mittelstreckenraketen der UdSSR, für deren Lösung der Schmidt’sche Politikstil wie geschaffen schien.

Durch alle Unbilden führte der Lotse sein Land mit hanseatischer Unbeirrbarkeit – auch wenn der „Finanz-Diktator“ (Der Spiegel) dabei zunehmend vergaß, die eigenen Überzeugungen ebenso überzeugend an Wahlvolk und Parteifreunde zu kommunizieren. Helmut Schmidt wäre am 23. Dezember 97 Jahre alt geworden. In Zeiten immer größer werdender politischer Verwerfungen wird er diesem Land fehlen. Als Stimme der Vernunft, aber auch: als Zeugnis einer Zeit, in der die Welt nicht weniger gefährlich, aber doch leichter verständlich schien.

 

Bild: Bundesarchiv, B 145 Bild-F062763-0002 / Hoffmann, Harald / CC-BY-SA 3.0

Written by Nicolas Flessa

Nicolas Flessa studierte Ägyptologe und Religionswissenschaft. Der Chefredakteur von seinsart drehte Spiel- und Dokumentarfilme und arbeitet heute als freischaffender Autor und Journalist in Berlin.

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