Ich lebe seit über einem Jahr in Berlin und frage mich, auch ohne jemals im Berghain gewesen zu sein, wo die Zeit geblieben ist. Ich bin seit 2012 mehrmals im Jahr in Berlin gewesen, wurde hier gezeugt (TMI) und Papa ist hier aufgewachsen, liebevoll „Icke“ genannt, nachdem er dann doch nach Hamburg umgesiedelt ist. Ich habe mich immer mit dieser Stadt verbunden gefühlt, auch wenn ich sie gehasst habe. Einfach, weil der Rest sie liebte.

Protesthass kann ich sowieso gut: Aus Prinzip erstmal alles scheiße finden, was der Rest gut findet. Das hat aber nur Spaß gemacht, bis es zu einem Trend wurde und mit Vollbart, Nickelbrille und Norwegerpulli im nächsten Starbucks Kaffee trank und sich Hipster schimpfte; dabei sind sie nur missverstandene Kreativ-Freigeister, die total inspiriert sind von diesem heftigen Flow in Mitte. Irgendwann bin ich dann, wieso auch immer, selbst hier gelandet und noch immer der Meinung, dass der zugezogene Vorher-Tourist die Stadt noch einmal ganz anders sieht als ein echter Berliner.

Berlin | seinsart

Und von denen gibt es viele Sorten. Zuerst einmal die, die sich jetzt schon mit Händen und Füßen dagegen wehren, in die nächste Schublade gesteckt zu werden, obwohl sie da perfekt reinpassen. Die, die unbedingt zwei Wochen vor Umzug in die Hauptstadt zum nächsten geisteswissenschaftlichen Studium eine Wohnung bei Facebook suchen, mit ungefähr so einem Post: „Peeps! Suche nach schnieker Wohnung, Kreuzberg/Prenzlauer Berg/Mitte, ab 60 qm, Südbalkon, Altbau, saniert, höchstens 450€ bis übernächste Woche Samstag – much Love, xxx“ Diese utopischen Wünsche sehe ich immer wieder durch die sozialen Netzwerke schweben, genannt „NETTWERK“ – was ein treffender Name wäre, wenn Gegenteiltag wäre.

Aber die „echten“ Berliner lassen meist nicht lang auf sich warten und eskalieren verbal komplett, was durch den permanenten Gebrauch der Capslock-Taste untermauert wird: „BIST DU BESCHEUAT ODA WAT!? Solche wie DICH können wir ja janich jebrauchen HIER!!!!!11 Wat is nua aus meenem BERLIN jeworden…“ Früher war mehr Steglitz und weniger Prenzlauer Berg. Irgendwie scheint jeder Anspruch auf diese Stadt zu haben – die Prenzlauer Berg Muttis, die mit ihren kreischenden Corbinian-Justins nur auf Englisch reden oder die Marzahner Jogginghosenboys, die auf dem Schwarzmarkt Kippen und Goldkettchen aus Polen holen  und die nächste „Luis Vuitong“ für ihre Mandy.

Berlin | seinsart

Wer hier eine gewisse Zeit verbracht hat, kann zwischen Soho House Mitglied und Kreuzberger Alternativen unterscheiden, wobei auch diese beiden „Berliner“ nicht wissen, wer von ihnen jetzt eigentlich cooler ist; seitdem jeder wieder Sneaker und Harry Potters ausrangierte Brillengestelle trägt, ist es einfach erheblich schwieriger geworden, irgendwem Vorurteile anzuhängen. Einfacher wird es, wenn man sie damit konfrontiert und abwartet, was passiert: Die einen drehen durch und halten dir einen zweistündigen Vortrag bei Bio-Dosenbier darüber, wieso Vorurteile generell schlecht sind und niemals stimmen, die Medien uns alle körperlich aussaugen, damit danach die Chefredakteure unsere Haut tragen können, und dass selbstgedrehte Zigaretten eh fast besser als Koks sind, wenn man sich erst einmal entschieden hat, Bäume mehr als Menschen zu lieben. Und während du noch denkst, dass es schlimmer eigentlich nicht mehr kommen kann, mischt sich Soho Daddy ein und findet, „dass früher auch mehr Kaviar war“.

In Berlin finden sich alle Menschen und alle Gruppen ein – und eins lässt sich mit Sicherheit sagen: Alles, was ihr gehört habt, stimmt. Alle Gerüchte sind wahr. Berlin ist dreckig und versifft, die U-Bahn mehr Sozialschlauch als Transportmittel, aber die ganze Stadt ist zu voll für das Auto, weil überall car2gos und Driveno’s stehen, von denen regelmäßig das dickste Modell – von Kreuzbergern mit Migrationshintergrund ausgeliehen – am Kottbusser Tor seine Runden dreht, worüber sich dann irgendeine Hilde aufregt, weil „früher mehr Ruhe war“. Jeder handbrewed Chai-Matcha-Latte ist mindestens vegan und doppelt gedreht durch irgendeine besondere Maschine, um den Ansprüchen der Neuen zu genügen, damit man dann zuhause in Castrop-Rauxel an Weihnachten erzählen kann, was man alles in Berlin trinken kann und man das Dorfleben ja so satt hat, denn Berlin verändert einen.

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Aber ja, Berlin verändert einen. Jeder nennt es „mein“ und doch gehört es niemandem. Berlin ist wie die wilde Freundin, die wir alle kennen, die wir alle bewundern, aber die niemandem gehört außer sich selbst. Die uns aufwirbelt und runterholt, die hässlichsten Seiten aus uns rausholt und uns gleichzeitig dazu bringen will, endlich ein guter Mensch zu werden. Ich klischeesiere, auch wenn das nur ein Neologismus ist, all die Leute um mich herum und stecke sie in Schubladen, die den schönsten Schrank der Welt ergeben. Ich liebe Berlin und all die Mandys und Justin-Corbinians und all die zutattowierten und dauerdichten „Free the animals und überhaupt jede Minderheit!“-Punks aus Friedrichshain.

Die Stadt hat sich verändert. Keine Stadt atmet so sehr Geschichte wie Berlin. Keine Stadt hat mir je so viel gegeben. Kein Mensch, der so anders und so viel weniger Klischee als hier, in diesem Text, war. Nichts hat mich je mehr empfangen als der Fernsehturm, denn früher war erstmal gar nichts. Berlin ist jetzt.

 

Bilder: ingeborgkraka (Titel), Kikos

 

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Written by Tara Wittwer

Tara ist Wahlberlinerin, Wahlantidiäterin, mag Pizza und Ponies. Sie schreibt gerne zu lange Texte über zu tiefe Gefühle, behauptet aber felsenfest, Vorzeigemisanthrop zu sein. Deswegen schreibt sie sonst auch gerne auf ihrem Fäschnbloooog über Stil und Co.

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