Am Abend des großen EU-Flüchtlingsgipfels saß ich in einem China-Restaurant am Wiener Heumarkt. Das Restaurant befand sich dem Stadtpark gegenüber und wurde hauptsächlich von Huáqiáo-Chinesen (Überseechinesen) frequentiert. Wie üblich hatten sich aufgrund der Dichte an Staats- und Regierungschefs zahlreiche Mitglieder verschiedener europäischer Presseagenturen in Wien eingefunden, um über den vom neuen Bundeskanzler Christian Kern anberaumten Gipfel aus der österreichischen Hauptstadt zu berichten.

Wie bereits verlautet worden war, gab es vom „kleinen Diktator“ Viktor Orbán nur lobende Worte für seinen neuen Amtskollegen. Kern habe es verstanden, die Runde der europäischen Regierungschefs dazu zu bringen, endlich mal Tacheles zu reden und nicht „das übliche EU-Blabla“. Drei Stunden nach dieser denkwürdigen Pressekonferenz traf ich mich mit einem Mann, den ich seit längerem nicht mehr gesehen habe. Seinen echten Namen kannte ich nicht. Die meisten, die mit ihm zu tun hatten, nannten ihn einfach Xīng Rén. Er ist ein Geschäftsmann und politischer Berater, der sowohl in Singapur als auch in Jakarta, Indonesien lebt.

Während des Abendessens dominierten die Ergebnisse des Flüchtlingsgipfels weitgehend unsere Tischgespräche. Wir rätselten über Viktor Orbáns mystische Andeutung, Österreich sei offensichtlich bestrebt, die alte Freundschaft wiederherzustellen und dass diese Absicht nicht unerwidert bleiben würde. Ich erinnerte meinen Gesprächspartner an ein Statement vom Aufsichtsratschef der verstaatlichten „Österreichische Bundes- und Industriebeteiligungen GmbH“, der in einem Interview einst sagte, er wünsche sich für die EU „ein bissl mehr russische ‚Demokratur’“.

Eine Umfrage, die vom SORA Institute for Research and Consulting durchgeführt wurde, hatte schon 2014 ergeben, dass sich ein Drittel der befragten Österreicher nach einem autoritären Führer, der sich nicht um Wahlen und Parlament kümmern müsste, sehnten. Dann fragte ich Xing Ren, ob die Ereignisse, die wir heutzutage erleben, einen entscheidenden Entwicklungstrend für die Zukunft signalisieren. Er wurde plötzlich nachdenklich und schwieg einen Augenblick. Dann schaute er mich an und erinnerte mich an eine alte Rockballade von Klaus Meine und den Scorpions aus den Neunzigerjahren.

Der Song hieß „Wind of Change“ und galt damals als „Hymne der Wende“, die Europa gerade erfasst hatte. Der Titel ging offenbar auf ein Zitat Willy Brandts zurück, das er am Tag nach der Öffnung der Berliner Mauer, am 10. November 1989, bei einer Rede vor dem Rathaus Schöneberg geäußert hatte. Er sprach vom „Wind der Veränderung, der seit einiger Zeit über Europa zieht“. Damals läutete dieser Wind des Wandels eine neue Ära von Demokratie und Liberalität für Europa und die Welt ein. Jetzt bläst er dem Westen kräftig entgegen.

 

Der Traum des Xi Jinping

Xing Ren war der Meinung, es ziehen bereits drei Mächte im Osten herauf, die dem Westen den Fehdehandschuh hinwerfen wollen: Russland, China und die islamische Welt. Sie sind jetzt schon im Begriff, diesem Planeten ihren Stempel aufzudrücken. Russland sieht sich berufen, eine neue Weltordnung zu gründen – einen „russkij mir“, wie sie manchmal ihre neue Eurasische Union bezeichnen, eine eurasisch-turanische Zivilisation, die der Welt neue Kraft und Vitalität verleihen will, um diese dann letzten Endes vor der Dekadenz und Verderbtheit des Westens zu retten.

China will ein neues Großreich sein – zu Lande und zu Wasser. Die neue Politik soll Chinas Einfluss in der Welt systematisieren und schlagkräftiger gestalten. Deshalb schielt die Volksrepublik begehrlich auf das Südchinesische Meer. Es ist Teil einer neuen Strategie, mit der der jetzige Staatschef Xi Jinping einen alten Traum wahr werden lassen will. Chinas Pläne sehen vor, diese neue Gegend als Ausgangspunkt für seine künftige geo- und handelspolitische Expansion zu nutzen, um Rohstoffnachschub und Energieversorgung zu sichern.

Derzeit baut China zwei Wirtschaftskorridore auf. Die Landroute soll die traditionelle Seidenstraße wiederbeleben. Und das Südchinesische Meer als Seeweg soll zur „Seidenstraße des 21. Jahrhunderts“ werden. Mit dieser Strategie hofft China, 40 afrikanische, asiatische und europäische Staaten mit China und Milliarden von Menschen zu verbinden.

Die Islamisten, fuhr Xing Ren fort, streben ein weltweites Kalifat an. Bei diesen geht es um den Sieg über einen arroganten und gottlosen Westen, der sie einst erniedrigt hatte. Sie wollen aus ihrer historischen Bedeutungslosigkeit ausbrechen und eine Neuordnung der Welt gründen. Auf sozialer und politischer Ebene wollen sie eine institutionalisierte Autorität, einen Vertreter Gottes, der im Besitz der ewigen Wahrheit ist. Und da Gott über den Gesetzen steht, fühlen sie sich an die irdischen Gesetze auch nicht sonderlich gebunden. Xing Ren meinte, eine gefährliche „aṣabiya“ habe diese Menschen erfasst.

Mein Gesprächspartner benutzte das arabische Wort „aṣabīya“ (ﻋﺼﺒﯿﺔ), von dem ich keine klare Vorstellung hatte. Ich fragte ihn, ob er mir das Wort ein bisschen ausführlicher erklären könnte. Grundsätzlich, meinte er, spiele es eine wichtige Rolle als einigendes Element unter den islamischen Glaubenskriegern. Er erklärte weiter, dass der arabische Historiker und Autor des Muqaddima, Ibn Khaldun, die Entstehung, Entwicklung und den Verfall von Staaten und Kulturen sehr aufmerksam beobachtete.

 

Die Kraft, die Reiche macht

Er stieß dabei auf eine Kraft, die das Wachstum und die Beständigkeit eines Staates im starken Maß bestimmte und diesen vor dem Zerfall bewahrte. Er nannte sie Asabiya. Und sie wurde zum zentralen Begriff seiner Staatstheorie. Für ihn war sie die kohäsive Kraft, die eine Gesellschaft und deren Kultur vereint. Von der Stärke dieser Kraft hängt jegliche Gemeinschaftsbildung ab. Die Stärke bestimmt den Aufstieg und Erhalt einer Kultur. Verliert sie zunehmend an Energie, ist der endgültige Niedergang nur eine Frage der Zeit.

Dann sprach er von einer ähnlichen Kraft, die er aus Indonesien kannte. Indonesien, sagte er, werde von vielen als ein mystischer Ort betrachtet, ein Land heiliger Gegenstände und unsichtbarer Kräfte. Und eine der bedeutendsten Kräfte, die für den Erfolg und das Wohlergehen des Landes unentbehrlich ist, nennen die Indonesier wahyu. Xing Ren meinte, Wahyu sei ein Begriff, den man schwer übersetzen kann. Er weist primär auf die Gunst der Götter oder auf ein göttliches Mandat hin.

Präsident Suharto, der 32 Jahre über Indonesien herrschte, soll über diese Kraft verfügt haben. Manche behaupten, er hätte sie von seiner Frau bekommen, die einer besonderen, königlichen Familie entstammte. Als sie im Jahre 1996 starb, begann sein Wahyu nachzulassen. Zwei Jahre später trat er von der Macht ab. In der javanesischen Mystik wird Wahyu, das als ein gleißendes, göttliches Licht wahrgenommen wird, vom Herrscher auf den Nachfolger übertragen. Viele glauben, dass es seit Suharto keinem Präsidenten gelungen sei, das Land erfolgreich zu regieren. Dies sei ferner ein Zeichen, dass eine echte Machtübertragung in Indonesien noch immer nicht stattgefunden hat.

Er sagte auch, man sehe eine ähnliche metaphysisch-politische Konstellation bei den Chinesen. In China handelt es sich dabei um den merkwürdigen Begriff . Durch die Spaltung von Diesseits und Jenseits sahen sich die Chinesen vor die notwendige Aufgabe gestellt, eine ursprüngliche Ordnung unter den Menschen wiederherzustellen. Und ist das Prinzip, das diese Idee ermöglicht. Es wird normalerweise als „Tugend“ übersetzt. Aber es ist viel komplizierter.

Xing Ren erklärte mir, dass in der alten Schriftform die Zeichen „Auge“ und „gerader Strich“ die wesentlichen Elemente dieses Wortes darstellen, was so viel wie „mit den Augen fixieren“ oder „bannen“ hieße. Aus dieser Vorstellung lässt sich dann eine magische Kraft ableiten, die eine große Rolle in der chinesischen Kultur spielen sollte. Das ist die sakrale Kraft der Ordnung, die in einer Familie oder Dynastie durch die Verdienste einzelner Individuen oder berühmter Vorfahren angesammelt werden kann.

Xing Ren meinte, dass sich mit einem diàn hè, „elektrischer Ladung“, vergleichen lasse. Wenn die Ladung eine gewisse Intensität erreicht, ist die Familie befähigt, über das Land zu herrschen. Sie erlangt das tiān mìng, das „Mandat vom Himmel“. Schliesslich erschöpft sich das im Verlaufe einer Dynastie. Der Verfallsprozess kann auch während dieser Zeit aufgehalten werden. kann sich sogar erholen. Aber im Endeffekt neigt es sich dem Ende zu – bis eine andere Familie an die Macht kommt, deren eine ähnliche Stärke erlangt hat. Auf diese Weise sind die großen Ereignisse der Geschichte durch die Schwankungen des gekennzeichnet.

 

Ein Rinnsal, das versiegen wird

Ich fragte Xing Ren, ob er etwa von einer Kultur wüßte, der es gelungen sei, ihren alten Akku wiederaufzuladen. Er sagte, China sei am Ende des 19. Jahrhunderts beinahe ein Arm- und Beinamputierter. Das Land sei ausgebeutet und verbraucht; die Dynastie schwach und unbedeutend gewesen. Seit dem Ende des 20. Jahrhunderts ist die Welt Zeuge von einer beispiellosen Wiedergeburt des Landes. Ein neues Mega-Reich greift förmlich nach der ganzen Welt.

Ich fragte ihn dann, wie das alles möglich sei. Er sagte, die ganze Kultur sei im Verlauf des 20. Jahrhunderts auf Eis gelegt worden. Auf diese Weise wurde der ganze Fluss schöpferischer Zahlen und Formen, die für eine Zivilisation unentbehrlich sind, im Kollektiv zum Stillstand gebracht. Das Land erlebte Verlust, Deprivation und Mangel. Ein Leidensprozess wurde eingeleitet, der bis zum Ende des Jahrhunderts dauerte. Durch den Entzerrungsprozess, der durch das schrecklich schnelle Schwert des Schicksals ausgelöst wurde, wurde das Volk auf tragische Weise von viel über die Jahrhunderte  angesammeltem Unrat und Ballast befreit. Sie wurden gleichsam wegkauterisiert.

Neugierig fragte ich ihn, ob der Westen auch diesen leidvollen Weg gehen müsste, um sich zu regenerieren. Xing Ren dachte eine kurze Zeit darüber nach und sagte, der jetzige türkische Staat  sehe den Westen als im Niedergang begriffen und spreche vom Anbruch einer neuen, besseren östlichen Zivilisation. Das sei der neue Panislamismus.

In diesem Sinne sieht er den muslimischen Menschen als eine bessere zivilisatorische Basis, weil dieser über ein besseres „Wertepotenzial“ verfügt als der derzeitige abendländische Mensch. Mindestens wird das in dem Werk „Civilisational Transformation and Muslim World“ vom ehemaligen türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu so dargelegt. Xing Ren meinte, Werte und Moral mögen zwar eine gewisse Stärke, und sogar eine Sprengkraft, in sich bergen, aber sie sind nicht von Dauer. Er schien dem Menschen jegliche Fähigkeit zur moralischen Beständigkeit abzusprechen. Sie sei wie Knallkörper beim chinesischen Neujahrsfest – laut und kurzlebig.

Westliche Errungenschaften, wie liberale Demokratie und freie Marktwirtschaft, haben ihre Strahlkraft verloren. Sie haben das ersehnte Ideal von einem „Neuen Jerusalem“ nicht errichten können. Und der Osten bildet sich ein, er könne es schaffen. Der Osten besitzt Reserven, die unverbraucht sind. Aber mit diesen kann er nur Bilder in Form von einer neuverpackten Wiederholung aus fernen, vergangenen Zeiten zeigen. Sie sind aber keine Antwort auf eine neue Zeit. Im Westen ist der Fluss der Zahlen zu einem Rinnsal geworden, das bald versiegen wird. Aber in diesem Fluss entdeckt man ein altes Geheimnis.

Er sprach von einem neuen , einer universellen Energie, die Zahlen, Formen und Dimensionen enthält. Im Menschen offenbart sich diese Kraft als Sexualenergie, die er benutzen kann, um sich fortzupflanzen oder damit Spaß zu haben. Sie ist mit dem Kosmos verbunden, dennoch liegt sie in der DNA des Menschen. Mit dieser Energie hat er einen Schlüssel zu ungeahnten Formen und Dimensionen. Sie wird als großes Licht beschrieben, aber ihre Wurzeln liegen jenseits des Lichtes, sozusagen in einer Gegenwelt. Der griechische Denker Pythagoras nannte sie das Apeiron (τὸ ἄπειρον), das Unbeschränkte. Es ist Licht und Dunkel. Hier öffnet sich das große Tor zu den Zahlen.

 

Die Schlange jenseits der Träume 

Ich versuchte Xing Rens Beschreibungen zu verfolgen, so gut ich konnte. Aber ich war verwirrt. Ich fragte ihn, ob seine Ausführungen eine Ähnlichkeit mit der altägyptischen Legende von Osiris und Seth hätten. Er sagte, ja. Aber er war Seth mehr gewogen als Osiris. Er meinte, Osiris sei bloß eine Ordnung unter vielen; in seiner Ordnung äußere sich Seth als die Kraft der Unordnung. Ordnungen seien wie Seifenblasen, die kommen und gehen. Seth aber sei ein Teil der Kraft, der jenseits der Ordnung stehe. Er gehöre zur geheimnisvollen Hauptströmung des Kosmos, die die Grundlage der Zahlen bildete. Es sei interessant zu merken, sagte er, dass man den Kopf des Seth an der Spitze eines machtvollen, altägyptischen Szepters dargestellt sieht. Er meinte, man habe dieses Wesen nie wirklich verstanden.

Wir blieben bis zur Sperrstunde. Als ich nach Hause ging, dachte ich unweigerlich an einen alten amerikanischen Film aus dem Jahr 1981, „Mein Essen mit André“. Zwei Freunde, die sich seit mehreren Jahren nicht mehr gesehen haben, trafen sich in einem New Yorker Restaurant. Der eine Freund erzählte seinem Kollegen, was seit den letzten Jahren in seinem Leben geschehen ist, während der andere vor allem zuhört.

Obwohl es bei diesem Gespräch um New-Age-Themen ging, hat der Film damals eine Aura von Hoffnung verbreitet. Man glaubte zu neuen Ufern aufbrechen zu können. Man dachte, dass die Lösungen zur Wirtschaft und Politik unmittelbar bevorstünden. Aber wie es sich herausstellte, verlief alles im Sand. Heute steht man vor einer ähnlichen Herausforderung. Aber der Drache oder die weise Schlange, die uns die Antwort auf unsere Fragen geben könnte, liegt noch tiefer als man sich vorstellen kann – jenseits der Träume, die uns wie Gespenster Tag für Tag heimsuchen.

 

Bild: Európa Pont

Written by Johannes Neustädter

Johannes Neustädter studierte Alte Geschichte und Byzantinistik in Cambridge und Wien. Der geborene Münchner arbeitet heute als Reiseleiter und Autor im Nahen und Fernen Osten sowie in den Ländern rund ums Mittelmeer.

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