Anders als der Titel es vielleicht vermuten lässt, war sie überhaupt nicht unsichtbar, meine durchsichtige Mutter. Sie war immer da, auch wenn viele sie nicht bemerkt haben. Sie schwebte irgendwie über Papa und mir, weit weg vom Boden der Tatsachen, der nicht umsonst als hart und ungemütlich beschrieben wird. Und doch war sie so anwesend, dass ich schon bald genug von ihr hatte, wenn Papa mal wieder genug hatte, was nicht gerade selten vorkam.

Nachts, zu Zeiten, wenn junge Mädchen schlafen sollten, wurden junge Frauen von Vätern und Männern, die eigentlich ganz anders waren, in meinem Wohnzimmer angebrüllt und vielleicht sogar geschlagen, ich habe mich nie getraut zu fragen. Und ich, das kleine Mädchen, lag wach und habe mit meinen Freunden geredet, weiter oben, nicht im Himmel, aber über mir, weil es sonst niemanden zum Reden gab. Ich habe nie an etwas Übernatürliches geglaubt, etwas Unsichtbares, das das Leben nur durch fest genug Wünschen verbessert, doch ich habe früh gelernt, dass es einen Feind gibt, der – nicht unsichtbar, aber durchsichtig – das Leben entscheidend verschlechtert.

 

Die Trennung kam nicht unerwartet, aber laut

Ich fand die Touren mit Papa immer lustig. Durch den Matsch im Auto, das Steuer rumreißen, irres Lachen, schneller, schneller, schneller. Papa war mein Held. Papa war so mutig und vielleicht der König der Welt. Ich war 8 oder 9, so genau weiß ich es nicht. Mama war immer wütend, wenn wir nach Hause kamen, torkelnd vor Glück, weil das Auto dreckig war. Jetzt weiß ich, nur ich torkelte wegen des Glücks und Mama war der Dreck am Auto völlig egal.

Papa hat zurückgebrüllt, dabei war er immer so gut drauf und die Ruhe in Person. Mein Hass gegenüber meiner Mutter wurde immer größer. Was für ein Mensch musste sie sein, wenn sie einen so witzigen, in sich ruhenden und charmanten Mann, der nur ein wenig Spaß mit seiner Tochter haben wollte, so zur Weißglut treiben kann? Das Band zwischen Papa und mir wuchs, weiter, weiter, weiter.

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Die Trennung kam nicht unerwartet, aber laut. Sie riss mich auseinander und aus meinem Umfeld heraus, der Umzug stand an und Papa nicht mehr auf. Überall lagen Flaschen, doch nie waren sie von ihm. Wenn sie im Kleiderschrank waren, waren sie vom Vormieter, dabei ist der Schrank mit umgezogen. Ich hatte Angst vor traurigen Liedern im Fernsehen, denn Papa hat geweint und das hat mich gebrochen. Er war so sentimental und sentimental ist ein Synonym für unkontrolliert.

Ich war zu blöd, zu leise, zu laut, zu oft da, zu wenig da, und immer wollte ich alles besser machen – denn ich war nie genug. Ich war nie die tolle Tochter, die ich sein wollte. Es hat lange gedauert, Jahre gekostet und Wagenladungen an Selbstachtung, um zu begreifen, dass ich immer gleich gut war, nur seine Sicht auf mich durch die durchsichtige Mutter verzerrt wurde.

 

„Eigentlich ist er ganz anders“

Die durchsichtige Mutter: Meist war es Wodka, selten Korn. Was halt da war. Sie regierte über ihn und erzog mich mit. Dinge, die einen Tag lang erlaubt waren, waren am nächsten wieder verworfen, so wie mein Weltbild oder Ansichten über Moral und Grenzen. Bei jedem Aufstehen war ich nicht sicher, ob ich abends nach den selben Regeln leben würde, würde leben müssen; wo bleibt da die Würde im Leben?

Es gab keine Schamgrenze für ihn und die doppelte für mich. Und das Schlimmste ist: Nie war ich wütend, selbst jetzt nicht – kein einziges Mal. Ich wurde vor Freunden beschimpft, angeschrien, vor der Familie, beim Einkaufen, auf der Straße. „Du bist dumm!“ – „Was kannst du eigentlich?“ – „Ich wünschte, du wärst nie geboren worden!“ Und der Tag danach, einen Rausch später, nüchtern: Fürsorge. Er weiß es nicht mehr oder will es nicht mehr wissen. Und ich auch nicht.

„Hallo Papa, da bist du wieder, ich hab‘ dich so lieb, ich weiß, dass du mich brauchst.“

Und immer wieder gebraucht werden: „Kauf bitte ein. Mach bitte sauber. Was würde ich nur ohne dich tun. Ohne dich würde ich sterben. Wenn du irgendwann wegziehst, weiß ich nicht, was mit mir passiert.“ Das Spiel mit der Angst und der Pflicht und der Schuld. Und überall über uns und unter mir, den Boden wegziehend, die durchsichtige Macht und Mutter, die dich so verändert und mich so geformt hat, Papa.

Teenie-Erinnerungen, Schule schwänzen. – „Ich hab‘ Bauchweh, Papa!“ –„Komm, wir trinken einen Schnaps, der beruhigt den Magen!“ – Mit 14 ist das witzig, doch eigentlich wusste ich, dass es das nicht ist.

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Co-Abhängigkeit war nie eine große Sache für mich. Und Alkohol auch nicht. Na klar, er trank ein bisschen mehr als sonst, aber die Scheidung, der Jobverlust, das alles muss man ja auch erst einmal verkraften. „Ich kann das schon verstehen!“ Und das Gerüst der Ausreden, die ihn stützen sollten, waren schlussendlich eher für mich – um mich zu fangen, wenn die Wahrheit wie ein dickes, mich ärgerndes Kind am Klettergerüst rüttelte, um mich fallen zu sehen.

Heimlich Dinge für ihn kaufen, die weniger Prozente hatten. Mir seine absurden Ausreden anhören, dabei habe ich nicht einmal um eine gebeten. „Er hat gerade eine schwere Zeit“ – „Eigentlich ist er ganz anders“. Und eigentlich war er das auch, aber eigentlich hieß schon lange eher „eigentlich nicht“.

 

Trink doch bitte was, du willst doch dazugehören

Jeden Tag Angst, jemanden mit nach Hause zu nehmen, weil ich nicht wusste, was dort passieren würde. Zerrissenheit, zusammengehalten durch klaren Kleber. Und am schlimmsten war, zu wissen, dass er das alles braucht, damit es ihm gut geht, obwohl es ihm dadurch so schlecht ging.

Ich hab die Gefahren erkannt, aber nicht verstanden. Sich bis in die Besinnungslosigkeit zu saufen war cool damals, das haben alle gemacht, und da haben die „Don’t drink an‘ drive“ Werbungen nichts daran geändert. Wir hatten sowieso keinen Führerschein und sind trotzdem gegen die Wand gefahren. Uns wurde nie gesagt, dass Komasaufen an sich gefährlich ist – nicht nur in Verbindung mit anderen Dingen. Und während Zigarettenwerbungen mittlerweile verboten sind, zelebriert man das Trinken mehr als je zuvor.

Menschen erleben die Nächte ihres Lebens mit Wodka und die neue Martini-Werbung zeigt Spaß, während sich Martin und Martina im wahren Rausch nur finden, um sich am Ende der Nacht wieder zu verlieren. „Wie, du trinkst nichts? Nicht mal ein Wein? Komm, nur einen. Sei kein Spielverderber. Hab Spaß.“

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Ich habe Angst, dass Bier oder Wein mir schmecken. Manchmal, beim Essen, dann denk ich daran. Ein Glas, vielleicht. Oder zwei? Und was ist, wenn ich die Kontrolle verliere? Ab wann ist es zu viel und überhaupt, wie kann ich mich schützen, wenn alle um mich herum darauf zielen, dass ich doch bitte was zu trinken habe, um in der Gesellschaft anzukommen? Ich habe Angst, mich in mir selbst zu verlieren, denn ich weiß, dass das passieren kann.

 

Wodka ist nicht dein Freund

Vielleicht ist wichtig, die Augen ein wenig offener zu halten. Und auf den einen Freund zu achten, der zuerst an der Bar ist. Der immer ein volles Glas hat. Das Mädchen aus dem Büro, das mehr Kater hat als mit 40, wenn sie Single bleibt. Auf die „Girl on the Train“ Girls zu achten – oder die Männer, die auch Papa sein könnten. Vielleicht zieht sie eher ein durchsichtiger Freund in die Nacht als die Nacht selbst. Vielleicht bin ich zu alt, um zu wissen, dass es keine imaginären Freunde gibt. Aber niemand hat gesagt, dass Wodka dein Freund ist.

Wein auf Bier, das rat ich dir. Aber nicht immer. Und nicht zu viel. Und auch, wenn ich eine durchsichtige Mutter hatte, so hat mich meine richtige oft aufgefangen. Und das Wissen, dass Papa, mein Held, mein König, ja eigentlich ganz anders war. Eigentlich.

 

Bilder: unsplash

Written by Tara Wittwer

Tara ist Wahlberlinerin, Wahlantidiäterin, mag Pizza und Ponies. Sie schreibt gerne zu lange Texte über zu tiefe Gefühle, behauptet aber felsenfest, Vorzeigemisanthrop zu sein. Deswegen schreibt sie sonst auch gerne auf ihrem Fäschnbloooog über Stil und Co.

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