Das Unvorstellbare ist geschehen und das zu einem Zeitpunkt, der rein strategisch keinen Sinn ergibt. Das Militär, um es genauer zu formulieren: Ein Teil des Militärs hat gestern versucht, die gewählte AKP-Regierung und damit Erdoğan zu stürzen. Die erste Meldung gestern betraf die Sperrung von Brücken in Istanbul und Geräusche von Jets und Hubschraubern in Istanbul und Ankara.

Was an diesem Putschversuch von Anfang an mysteriös wirkte, war die Tatsache der Konzentration auf zwei Städte. Als handelte es sich um eine Handvoll pubertierender Jungs, die sich gegen den mächtigen Vater auflehnten. Kein anderer Bezirk in der Türkei war betroffen, keine Stadt, keine Region.

Wer immer hinter diesem Putschversuch steckt, er wollte es mit einer Handvoll Soldaten und ohne rechtzeitige Übernahme der Medien erreichen. Denn die wurden erst nach einigen Stunden übernommen und abgeschaltet. Vorher hatte Erdoğan noch die Möglichkeit, via Facetime alle AKP-Anhänger auf die Straße und auf die öffentlichen Plätze zu rufen. Von diesem Zeitpunkt an wurden von den Moscheen in Istanbul aus ohne Pause Gebetsrufe vorgelesen und die Menschen weiterhin auf die Straßen gerufen.

Dafür muss man wissen, dass nicht an die Gebetszeit gebundene und ohne Unterbrechung gelesene Gebetsrufe den Dschihad ausrufen, also den Kampf auf dem Weg zu Gott. Das war letztlich auch der Grund dafür, warum auf den Straßen Allah Akbar Rufe zu hören waren – begleitet von den Muezzinen im Hintergrund.

Dass ein putschendes Militär die Medien nicht als erstes übernommen hat und so Erdoğan nach Beginn des Putsches die Gelegenheit eröffnete, seine Anhänger auf die Straßen zu rufen und somit mit dem putschenden Militär zu konfrontieren, wirkt skurril und nicht wie das Produkt einer gut geplanten und strategisch durchdachten Maschinerie eines oder mehrerer Generäle, denen es mit Erdoğan und seiner AKP-Regierung zu bunt zu werden schien.

Der ungeschickte Ablauf des Putschversuchs und die Anzahl der Soldaten und Panzer führte dazu, dass viele sowohl auf Facebook als auch auf Twitter der Meinung waren, es handle sich um eine Inszenierung durch Erdoğan selbst, um endgültig das Militär zu säubern und die noch verbliebenen ungeliebten Generäle auszutauschen. Zugleich hätte er hiermit erreicht, was auf zivilem Wege bisher nicht geglückt ist: dem Volk noch einmal vor Augen zu führen, dass der Laizismus und die Liebe zu Atatürk nur Chaos bringt und nicht die Lösung – und er als Präsident mit dem Präsidialsystem, welches er einführen möchte, gegen die Chaoten für Schutz und Ordnung sorgt. Ein User schrieb: „Der teuerste Film der Türkei wurde heute Nacht gedreht. Freut Euch nicht, dass Ihr ihn umsonst sehen durftet, wir werden noch fünf Jahre teure Tickets bezahlen“.

Ein Militärputsch hat dem Volk noch nie Befreiung gebracht, er hatte nur noch mehr Schmerz und Leid zur Folge. Und in den meisten Fällen auch nicht für die Machthaber und machtputschenden Gruppen; ein Putsch hat schon immer die linken Gruppen in einem Land mehr getroffen als den Rest. Deswegen war die anfängliche Freude über einen Militärputsch, den einige im Netz kundtaten, nicht nur irritierend sondern auch naiv. Hätte das Militär die nötige Unterstützung gehabt, hätte es schon vor einigen Jahren geputscht. Weil Erdoğan schon seit Jahren Generäle versetzt oder inhaftiert, die nicht seinem Bild entsprechen, und viele Teile des Militär mit eigenen AKP-treuen Generälen besetzt, ist dies jedoch schon lange nicht mehr möglich. Einige der alten Generäle sitzen heute noch im Gefängnis, weil ihnen vorgeworfen wurde, einen Staat im Staat gegründet zu haben, um eben die regierenden Machthaber zu stürzen.

Egal ob es nun eine Inszenierung oder der zarte Versuch eines möglichen Putschversuches war, das Land ist mehr als je zuvor gespalten. Es hat nach ersten Angaben mindestens 265 Tote gegeben und über 1100 Verletzte – und nach Erklärungen über den gescheiterten Putsch – die ersten Lynch-Fotos von Soldaten. Ein Land, das sonst Vergeltung schwört für seine gefallenen Soldaten, hat auf einer Istanbuler Brücke einem Soldaten den Kopf abgeschnitten.

Heute Morgen wachen viele Türkinnen und Türken auf, wenn sie überhaupt geschlafen haben und finden sich in einer Türkei wieder, in der alles möglich zu sein scheint – aber nichts mehr sicher.

 

Bild: www.kremlin.ru

 

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Written by Elif Kahnert

Elif Kahnert ist studierte Erwachsenenbildnerin und systemischer Coach. Als Lehrbeauftragte hält und organisiert sie Seminare zur türkischen Frauenbewegung und bloggt unter anderem über Flüchtlingspolitik.

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