Heute fand ich auf Twitter folgenden, mich sehr nachdenklich stimmenden Tweet: „Wer am ‚falschen’ Ort mit der ‚falschen’ Nationalität geboren wurde, für den ist es eine Straftat, seinen Körper dorthin zu bewegen, wohin er möchte.“ Nachdenklich stimmt er mich auf zwei sehr unterschiedlichen Ebenen. Auf der einen Seite in der Art und Weise, die seine Autorin intendiert hat: Er macht mich betroffen, da er die Verhandelbarkeit von Freiheit, die Einschränkung, die „der Zufall der Geburt“ uns auferlegt oder erlässt, in einen knappen, aber pointierten Zusammenhang stellt. Wer dieser Gefühlsregung nicht spontan erliegt, hat vermutlich weniger soziale Kompetenz, als seinem Land und seiner direkten Umgebung gut tun würde.

Auf der anderen Seite macht er mich betroffen in einer Art und Weise, der seine Autorin vermutlich heftig widersprechen würde: Indem er den Finger in eine Wunde legt, die keineswegs so einfach funktioniert wie gut oder böse, Tag oder Nacht. Heruntergebrochen stellt ihre Aussage über die Frage der mangelnden globalen Beweglichkeit die Frage nach dem Recht auf Herkunft und Zugehörigkeit. Um nicht missverstanden zu werden: Diese Frage ist berechtigt und eine notwendige Folge der ökonomischen Verflechtung, die unter dem Namen Globalisierung bekannt geworden ist. Die Freiheit, sich auf dem Kontinent dorthin zu bewegen, wohin man möchte, ist im Grunde die Antwort von unten auf die von oben angestoßene Praxis der freien Wahl von Absatzmärkten und Produktionsstätten. Wenn eine Firma angemessene Steuern und soziale Standards verhindern kann, indem sie sein Callcenter nach Indien verlegt, ist es im Grunde genommen nur das gute Recht des Inders, in einem deutschen Callcenter arbeiten zu wollen – aufgrund der hiesigen Löhne und sozialen Standards.

Soweit zur Praxis der Arbeitgeber und zur Theorie der Arbeitnehmer. Ein System, das die Idee der Globalisierung dazu nutzt, um in mittelalterlicher Manier die Vorteile der Herrschenden zu mehren und die Nachteile der Beherrschten zu legitimieren, kann und darf in der Zukunft unserer Welt keine Rolle mehr spielen. Hier gehe ich mit der Bloggerin vollkommen konform. Meine Sorge aber betrifft die unmittelbare Gegenwart. Was derzeit geschieht, ist eine in der Geschichte vielleicht einmalige Eroberung eines neuen Lebensraumes durch eine unkontrollierte, aber kollektive Sehnsucht nach einem besseren Leben.

Die Freiheit, sich dorthin zu bewegen, wohin man möchte, ist die Antwort von unten auf die von oben angestoßene Praxis der freien Wahl von Absatzmärkten und Produktionsstätten.

Natürlich hat es immer schon Völkerwanderungen gegeben, doch diese fanden zwischen Staaten und geographischen Räumen statt, die wirtschaftlich und politisch nicht so eng miteinander verknüpft waren. Was heute durch die Abstimmung mit Füßen geschieht, ist nicht nur eine Flucht in den goldenen Westen; es ist auch und vor allem eine Eroberung jenes Lebenskonzepts, das einem von eben diesem Westen seit etwa 200 Jahren vermittelt wird – zu Beginn freilich in Form einer hierarchischen Überlegenheit. Wenn heute Hunderttausende von Menschen über das Mittelmeer aufbrechen, um einen besseren Raum für ihre Zukunft zu finden, so ist das nicht bloß „Wirtschaftsflucht“ – sondern die Quittung für einen kulturellen Imperalismus, den wir mit unseren Produkten und Medien über Jahrzehnte forciert und vorangetrieben haben.

Kommen wir zu meiner zweiten, da subtileren Sorge. Das System, das uns den Luxus beschert, den wir modernes Leben nennen, basiert derzeit auf dem ökonomischen Ungleichgewicht von Lebensräumen. Massenhafte Flucht führt nicht nur dazu, dass das angestrebte Niveau im Zielland auf Dauer nicht zu halten sein wird. Unser System beruht nicht zuletzt auf einer ungerechten, aber stabilen Verteilung globaler Rollen. Werden diese nun massenhaft in Frage gestellt, werden wir nicht darum herumkommen, eine neue ökonomische Weltordnung für alle auszuhandeln – im Interesse aller Beteiligten.

Ich sage nicht, dass 2 oder auch 20 Millionen Menschen nicht auf dem europäischen Arbeitsmarkt zu integrieren sein werden. Ich sage nicht, dass die aktuellen Flüchtlinge nicht nur an einer Bereicherung ihres eigenen Lebens, sondern auch an einer Bereicherung unserer Gesellschaft arbeiten – in kultureller, ökonomischer und demographischer Hinsicht. Was ich vielmehr sagen will: Wer theoretisch fordert, Geburt solle in Zukunft nicht mehr als ein verhandelbarer zufälliger Akt sein, den man durch freie Wahl seiner Zugehörigkeit jederzeit „wiedergutmachen“ könne, berührt mehr als das aktuelle Flüchtlingsthema. Er stellt – zweifellos in bester Absicht – eine der Grundordnungen des menschlichen Lebens in Frage, die eben nicht zufälliger Natur sein kann.

Wer diesen Gedanken zu Ende geht, müsste Kindern erlauben, ihre armen Eltern zu verlassen, um den gleichen Luxus wie ihre reicher geborenen Schulkameraden zu genießen.

Wer diesen Gedanken konsequent zu Ende geht, müsste Kindern erlauben, ihre armen Eltern zu verlassen, um den gleichen Luxus wie ihre reicher geborenen Schulkameraden genießen zu können. Wir sehen schon hier: Auch die beste Fabrikantenfamilie wird auf dem Niveau ihrer bisherigen Erziehung keine Schulklasse ernähren können. Die „Zufälligkeit“ des Geborenwerdens ist – wenn man nicht gerade der Karmalehre angehört – eine der Grundungerechtigkeiten des menschlichen Lebens, das durch „Freiheit der Handlung“ nicht ausgeglichen werden kann. Kein Kind mit Behinderung, kein Kind mit einer ihm oder anderen Person unliebsamen Ethnie oder Hautfarbe kann die Zufälligkeit seines Soseins durch einen Willensakt in Frage stellen.

Was wollen wir aus dieser „Ungerechtigkeit“ ableiten? Dass idealerweise alle Menschen derselben Rasse, derselben Familie, derselben Nation angehören sollten, die „zufällig“ mehr Geld, mehr Gesundheit, mehr Macht hat? Oder sollte sie dazu führen, dass wir dafür sorgen, dass es keine ‚falschen Orte‘ oder ‚falsche Nationalitäten‘ mehr gibt? Ersteres ist eine Utopie; zweiteres ist ein politisches Ziel. Indem wir endlich sicherstellen, allen Menschen – unabhängig von ihrer Geburt – ein lebenswertes Dasein zu ermöglichen; in ihrer Herkunftsfamilie, an ihren Geburtsorten, mit all ihren Benachteiligungen oder Einschränkungen. Eine globale Zukunft kann nicht bedeuten, empörende lokale Ungerechtigkeiten durch andauernde Flucht auszugleichen und diese mit dem Stempel der „freien Ortswahl“ zu versehen. Eine globale Zukunft kann nur darin bestehen, lokale Ungerechtigkeiten auch lokal zu beseitigen – durchaus und vielleicht aufgrund der historischen Zusammenhänge sogar zu einem großen Teil mit Aufwendungen aus den reicheren Ländern dieser Welt.

Niemand hat die Absicht, Menschen daran zu hindern, ihre Körper zu bewegen – diese Frage ist ohnehin eine Angelegenheit der Reisefreiheit und hat wenig damit zu tun, dauerhaft in andere Gesellschaften zu emigrieren. Die gegenwärtige Massenflucht aus ärmeren Ländern mit einer zweifellos massenhaften Verquickung von Flucht aufgrund von Krieg und Terror sollte die Europäische Union, aber auch ihre westlichen Verbündeten in Übersee, dazu bewegen, Nachhaltigkeit nicht nur als eine Angelegenheit des Klimaschutzes zu behandeln.

Wer nachhaltig wirtschaftet, beschädigt nicht die Lebensgrundlagen und die Zukunftschancen von Menschen – egal in welcher Region sie geboren und berufstätig sind. Es ist an der Zeit, diese einfache Wirklichkeit zurück in unser ökonomisches Denken zu tragen. Solange dies nicht geschieht, ist Globalisierung nichts weiter als ein modernes Etikett für Kolonialismus und Imperialismus – und wird uns und der Welt auf Dauer die historisch bekannten, immergleichen, längst abzusehenden Probleme bescheren. Sollten unsere Unternehmen, aber auch unsere Politiker diese einfache Lehre aus der gegenwärtigen Massenflucht nicht ziehen, werden sie vielleicht bald keine Gelegenheit mehr dazu haben.

 

Bild: wjgomes

 

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Written by Nicolas Flessa

Nicolas Flessa studierte Ägyptologe und Religionswissenschaft. Der Chefredakteur von seinsart drehte Spiel- und Dokumentarfilme und arbeitet heute als freischaffender Autor und Journalist in Berlin.

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